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Zeitenwende: Bye bye kompliziert – Hello komplex

Ich möchte heute ein paar Gedanken nachgehen, die mich als Feedback zu meiner Kolumne erreicht haben. Und zwar konkret: Warum sollen wir denn jetzt agil sein und machen nicht so weiter wie bisher?
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Richard Seidl

Berater, Coach und Autor


  • 18.12.2020
  • Lesezeit: 4 Minuten
  • 104 Views

Ein Modell – falsch, aber nützlich

In einem meiner ersten agilen Projekte Anfang der 2000er-Jahre hab ich mir die Frage sehr häufig gestellt: Warum? Warum alle Prozesse umschmeißen, Verantwortlichkeiten ändern, Hierarchien auflösen, neue Tools hier und fancy Methoden da? Nur weil es grade hip ist und alle das machen? Ja, man kann natürlich argumentieren mit schneller, höher, weiter, flexibler ... Aber für mich hat sich über die Jahre ein ganz anderer Grund herausgeschält: Agil zu arbeiten – zu denken –, hilft uns, damit umzugehen, zu wissen, dass wir nichts wissen – sprich mit der Ungewissheit. Und wie ist die entstanden? Hier hilft ein ungenaues, aber nützliches Modell: Aus kompliziert wurde komplex. Das war eine Zeitenwende. Ist aber schon vorbei. Kompliziert war einmal. Jetzt ist komplex.

Die „gute“ alte Zeit

Früher war zwar bei Weitem nicht alles besser. Aber einfacher. Zumindest haben wir es verstanden. Ein Entwicklungsprojekt war überschaubar. Selbst große Projekte konnten sich auf relativ stabile Rahmenbedingungen stützen. Ein MS Project-Plan hatte noch eine brauchbare Halbwertszeit. Die Verbindung zwischen Ursache und Wirkung war nachvollziehbar. Wenn an einem Ende etwas geändert wurde, war abschätzbar, worauf es sich auswirkt. Das war die große Zeit der Optimierer. Den Prozess immer effizienter machen. Wegzuschneiden, was weg kann. Die Stellschrauben fein justieren und aufeinander abstimmen, damit das ganze Projektgefüge läuft wie ein Uhrwerk. Das hat auch ganz gut geklappt, zumindest bis die Kosten für weitere Optimierungen den Nutzen überstiegen. Aber das war nur ein Problem.

Ich weiß, dass ich nichts weiß, und ich weiß nicht, was ich nicht weiß

Schieben wir‘s mal aufs Internet. Vielleicht nicht die erste Generation, auch nicht die zweite, aber irgendwann haben unsere Software und unsere Projekte angefangen, ein Eigenleben zu entwickeln. Schleichend, kaum erkennbar. Nur begleitet von dem unguten Gefühl, dass es unübersichtlich wird. Hier mal ein paar Systeme gekoppelt, da ein Datenaustausch, ein paar Microservices dazu. Und heute stehen wir vor Applikationen und Systemlandschaften, deren Algorithmen durch Einzelne gar nicht erklärbar sind (aber funktionieren), wo der Zusammenhang von Ursache und Wirkung nicht mehr eindeutig ist. Und wer an einem Rädchen dreht, kann sich nicht sicher sein, worauf es sich auswirkt (Schöne Beispiele dazu finden sich z. B. in der aktuellen Netflix-Doku „The Social Dilemma“).
Aber damit nicht genug. Auch die Rahmenbedingungen sind nicht mehr so stabil: Schnelle Update-Zyklen der Umgebung, Sicherheitslücken, ein physisches Virus, das – schnipp – mal die komplette Welt umkrempelt, Safe Habour hier, DSGVO da, Mitarbeiter und deren Bedürfnisse, Shareholder und deren. Und das alles im Eiltempo. Nun haben wir drei Optionen:

  • Weiter Optimieren und am Gewohnten festhalten: Das endet dann in Frust oder Burn-out, aber das Ziel ist nicht mehr zu erreichen.
  • Aussitzen: Theoretisch möglich, wenn man einen langen Atem besitzt und darauf wettet, dass alles wieder so wird wie früher. Ich glaub nicht daran.
  • Ungewissheit akzeptieren und selbst gestalten: Klingt anstrengend, mühsam und unbefriedigend. Ist aber meiner Meinung nach die einzige sinnvolle Option.

Was ist denn daran so schwer?

Meiner Erfahrung nach ist dabei die größte Hürde, die es zu überwinden gilt, die Angst, keine Kontrolle zu haben. Nichts zu haben, womit man MS Project und irgendwelche Powerpoint-Berichtsampeln füllen könnte. Nicht alle Eventualitäten abdecken zu können. Sich nicht absichern zu können. Keinen Schuldigen benennen zu können, wenn was schief läuft.
Ich spinne mal optimistisch rum: Ich glaube, dazu möchte uns all der agile Krimskrams an Methoden und Tools erziehen: Vertrauen, Mut und Verantwortung. Große Worte und so weit weg von Planung, Kontrolle und Softwareentwicklung. Es ist aber – Entschuldigung dafür – alternativlos. Aussitzen ist nicht. Hände vor die Augen zu halten, macht das Problem nicht weg. Also bitte: Beherzt den ersten Schritt gehen!
Was denken Sie dazu? Ich freue mich auf Ihr Feedback, Ihre Fragen und Gedanken: https://seidl.to/osk

Ihr Richard Seidl

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Richard Seidl

Berater, Coach und Autor
Zu Inhalten

Richard Seidl ist Berater, Coach und Autor. Er hat in seiner beruflichen Laufbahn schon viel Software gesehen: gute und schlechte, große und kleine, neue und alte. Software so schön, dass man weinen könnte, und auch solche, wo es Fußnägel aufrollt. Für ihn ist klar: Wer heute exzellente Software kreieren möchte, denkt den Entwicklungsprozess ganzheitlich: Menschen, Kontext, Methoden und Tools.


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