Seit vor etwa einem Jahr ChatGPT auf den Markt gekommen ist, herrscht ein riesiger Hype um das Thema GenAI. Ist diese Aufregung übertrieben oder kann man das Thema eigentlich gar nicht überschätzen?
Andreas Nauerz: Es ist nicht übertrieben, und das Thema entwickelt sich aus meiner Sicht so rasant wie keines, das ich bisher in meiner beruflichen Laufbahn erlebt habe. Es ist sehr beachtlich, was sich durch GenAI in den Unternehmen bereits verändert hat und wie stark es bereits heute die verschiedensten Bereiche beeinflusst. Es geht weit über die IT hinaus und wird praktisch alle Gewerke eines Unternehmens betreffen – von Marketing, über Entwicklung und Produktion bis hin zum Vertrieb. Wir erleben gerade eine Demokratisierung von KI und wir stehen dabei sogar erst am Anfang.
Was meinen Sie mit Demokratisierung?
Sie müssen nicht mehr der KI-Spezialist sein, um GenAI anwenden zu können, sie müssen auch nicht mehr über Unmengen von Daten und die entsprechenden finanziellen Mittel verfügen, um Modelle trainieren zu können. Vieles von dem, was heute von GenAI nutzbar ist, wird bereits als Service angeboten und steht immer mehr Leuten zur Verfügung.
Sie haben kürzlich eine Studie zitiert, der zufolge es nur einige Tage gedauert hat, bis eine Million Nutzer das gerade zugängliche ChatGPT schon ausprobiert hatten – viel schneller als bei jeder anderen Technologie. Liegt diese äußert rasante Adaptionsgeschwindigkeit an der Einfachheit der Anwendbarkeit oder hat es mit der Faszination des Themas zu tun?
Beides. Das hat sicher auch mit den Medien zu tun. Jeder spricht drüber. Und wenn die eigene Oma es schon erwähnt, muss man es natürlich ausprobieren. Aber für wesentlicher halte ich die Einfachheit. Man braucht dazu keine kryptische Programmiersprache. Es funktioniert mit natürlicher Sprache, etwas, das wir alle beherrschen. Das wird sich auch auf andere Bereiche auswirken: Ich glaube in fünf Jahren werden wir keine Applikation, keinen Service mehr sehen, den man nicht mit Sprachinterface bedienen kann. Sie werden Photoshop sagen können, "ändere mir den Himmel im Foto zu Blau", und das System wird wissen, was damit gemeint ist. Deshalb denke ich, dass die jetzige Entwicklung auch ein starker Beitrag zur weiteren Demokratisierung der IT ist.
››Wir haben 2017 das Bosch Center for Artificial Intelligence gegründet‹‹
Also müssen wir nur noch lernen zu sagen, was wir wollen. Das fällt uns ja nicht immer ganz leicht.
In den kommenden Jahren wird man durchaus noch ein gewisses Maß an Wissen über die Funktionsweisen der Systeme benötigen. Deshalb ist ja das sogenannte Prompt-Engineering, in dem man die Befehle, also Prompts, formuliert und den GenAI-Services Fragen stellt, so wichtig, um gute Ergebnisse zu erzielen. Aber auch das wird auch in den nächsten Jahren weniger relevant werden, da die Systeme lernen werden, nachzufragen.
Seit wann beschäftigt sich Robert Bosch mit dem Thema und seit wann ist das Unternehmen in diesem Bereich aktiv?
Das Unternehmen beschäftigt sich schon relativ lang damit. Wir haben 2017 das Bosch Center for Artificial Intelligence (BCAI) gegründet, das heute angegliedert ist an die zentrale Forschung. Seit 2023 steht GenAI im Fokus, und weil Bosch Digital auch im vergangenen Jahr gegründet worden ist, stand das Thema quasi vom ersten Tag an auf der Tagesordnung. Wir haben inzwischen ein Center of Excellence, in dem Kolleginnen und Kollegen aus Bosch Digital, aber eben auch aus dem erwähnten BCAI an der Frage arbeiten, wie sich GenAI für Bosch gewinnbringend einsetzen lässt. Weil wir in verschiedenen Geschäftssegmenten von Automobil über Building bis Hausgeräte arbeiten, ist die Frage nach dem sinnvollen Einsatz gleich mehrfach zu stellen. Das Interesse aus diesen Bereichen ist sehr groß. Wir müssen dabei jedoch aufpassen, dass wir uns nicht verzetteln oder sogar redundant arbeiten.
Darüber hinaus dürfen wir auch die Risiken nicht aus dem Blick verlieren, die es bei GenAI natürlich auch gibt. Deshalb gehen wir das zentral mittels besagtem Center of Excellence an, in dem alle relevanten Gewerke mitwirken und eben nicht nur technische, geschäftliche, sondern auch rechtliche und ethische Themen berücksichtigt werden. Wesentlich ist es aber vor allem, Use Cases zu identifizieren, zu clustern und zu priorisieren. Dabei fragen wir uns bei jedem einzelnen Use Case, welchen Aufwand müssen wir dafür betreiben und welchen Impact hat das auf unsere Kunden.
Viele Unternehmen probieren die neuen KI-Möglichkeiten noch eher unsystematisch aus. Interessierte Mitarbeitende probieren Services aus, berichten ihren Kollegen davon und bauen sie individuell weiter aus. Aber häufig fehlen den Unternehmen eine KI-Strategie und ein dezidiertes Budget. Wieso macht Bosch das anders?
Das hat mit Erfahrung zu tun, glaube ich. Wir beschäftigen uns schon seit sechs Jahren intensiver mit dem Thema KI und wir haben GenAI bereits seit einiger Zeit kommen sehen. Wir interessieren uns seit jeher für die Steigerung unserer operationalen Effizienz. Als Mischkonzern müssen wir dafür unsere Kräfte bündeln. In Sachen KI erschien uns schon sehr früh das erwähnte Center of Excellence als adäquates organisatorisches Setup.
Operationale Effizienz? Ist das das Hauptmotiv für das KI-Engagement oder sind das die viel zitierten niedrig hängenden Früchte, die man ernten möchte?
Ich glaube, dass die Reise weitergeht. Wir werden KI beziehungsweise Generative KI auch in Endprodukten sehen, und sie wird helfen, die User Experience zu verbessern. So kann KI beispielsweise in der Qualitätskontrolle helfen. Aber auch im Service und in Kundencentern kann GenAI die Qualität gegenüber heutigen Dialogsystemen stark verbessern. Kunden müssen nicht mehr die 1 bis 7 wählen oder nennen, sie können sich in natürlicher Sprache an das System wenden. Ähnliches gilt für die Steigerung der Mitarbeiterzufriedenheit. Denken Sie nur an die Copilot-Systeme, mit denen bereits jetzt die Softwareentwicklung unterstützt wird. Solche Unterstützungssysteme werden wir immer häufiger finden, die den Mitarbeitenden das Leben deutlich leichter machen.
Können Sie uns einige Use Cases nennen, die Bosch umgesetzt hat oder dabei ist umzusetzen?
Wir haben vier größere Bereiche identifiziert, in denen wir arbeiten. Der erste ist der Bereich "Search and Summarization". Sie kennen die Frustration, die Mitarbeitende in größeren Firmen regelmäßig befällt, wenn sie intern nach Informationen suchen. Das ist umständlich, ineffizient und fördert oft nicht die Resultate zutage, nach denen tatsächlich gesucht wurde. Hier öffnen KI-Systeme über natürliche Sprache und den Silo übergreifenden Zugriff auf Daten neue Horizonte. Mitarbeitende können nicht nur in ihrer normalen Sprache suchen, sondern sie bekommen auch keine unübersichtliche Linksammlung zurück, in der sie wiederum nach den Informationsbits suchen müssen, sondern sie bekommen die Informationen in strukturierten normalsprachigen Texten angeboten.
Das zweite Cluster betrifft Bot-Technologien. Die spielt bei uns vor allem im Support und in Servicecentern eine wichtige Rolle. Mithilfe von GenAI können wir für Kunden und Mitarbeitende viel mehr Informationen zugänglich machen als zuvor. Zum Beispiel dadurch, dass die KI Zugriff auf sämtliche Handbücher und die vielen historischen Support-Tickets bekommt. In unseren Service- und Support-Zentren nutzen wir solche Algorithmen und KI-Services bereits. Das Gespräch des menschlichen Service-Agenten und Kunden hört eine KI mit. Sie schlägt dann dem Agenten mögliche Lösungen vor, die er dem Kunden dann erläutern kann. So verbessern wir gleichzeitig das Kundenerlebnis und das der Mitarbeitenden.
››Wir werden Generative KI auch in Endprodukten sehen‹‹
Weiß der Kunde, dass eine KI mithört?
Ja. Wir genügen selbstverständlich allen gesetzlichen Vorschriften und informieren immer, wenn wir etwas aufzeichnen oder Ähnliches.
Das dritte Cluster?
Content-Creation. Dabei geht es darum, Material für bestimmte Anwendungszwecke zu erzeugen. Wenn das Marketing zum Beispiel eine Produktbeschreibung in 50 Sprachen für Webseiten benötigt. Mit dieser Technologie muss dies dann niemand mehr per Hand schreiben oder übersetzen. Dass der erste Entwurf dann noch von einem Menschen überprüft und gegebenenfalls angepasst wird, ist klar. Trotzdem spart das enorm viel Zeit. Das vierte Cluster bezieht sich auf den Bereich "Engineering and Development". Das Schreiben von Dokumentationen, was Entwickler selten lieben, lässt sich mit GenAI weitgehend automatisieren. Auch Test Cases schreiben die meisten Entwickler ungern. Auch das lässt sich mit dieser Technologie enorm vereinfachen. Aber das geht noch weiter. GitHub Copilot unterstützt bereits während der Codierung – bis hin zu kompletten Code-Fragmenten und ganzen Applikationen, die darüber generiert werden können. Ein solches Tool kann Vulnerabilities anzeigen, kann mir als Entwickler Performance-Verbesserungen vorschlagen und ähnliche effizienzsteigernde Hilfen anbieten.
Inwieweit lebt das schon bei Bosch?
Wir haben solche Tools bereits im letzten Jahr implementiert. Übrigens in Zusammenarbeit mit der Rechtsabteilung. Tools, die automatisch Code generieren, müssen ja bereits mit vorhandenen Programmen in Berührung gekommen sein. Da gibt es ähnliche Copyright-Fragestellungen wie bei der Generierung von Texten durch GenAI-Werkzeuge. Aber auch die Frage, wer haftet für automatisch generierten Code, muss berücksichtigt werden. Neben Tools, die wir onboarden, entwickeln wir aber auch selbst. Wir haben innerhalb von Bosch eine Art eigene "Instanz" von ChatGPT, an die unsere Datenquellen angebunden sind. Auch die Beispiele, die ich aus den anderen Clustern gegeben habe, sind alle zumindest teilweise bereits live.
Gibt es bereits Bereiche, in denen Sie an die Grenze der Möglichkeiten von GenAI stoßen?
Es gibt natürlich noch viele Herausforderungen. Das Feintuning der Modelle ist noch sehr aufwendig. Auch um sicherzustellen, dass alle Risiken richtig adressiert werden, werden noch hohe Investitionen benötigt. Und es bleiben noch große Fragen wie Vertrauenswürdigkeit eines Algorithmus und Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse, Latenz in der Antwortgewinnung, Erklärbarkeit, Stabilität der Antworten. Zur Beantwortung dieser Fragen muss sicher noch ein guter Weg zurückgelegt werden. Aber da arbeiten wir auch eng mit unseren Partnern wie Aleph Alpha zusammen. Nachvollziehbarkeit ist für dieses Unternehmen zum Beispiel ein ganz wichtiges Thema und ein wichtiger Grund, warum wir mit ihnen zusammenarbeiten.
Auf welche Technologien setzt Bosch und welche Strategie verfolgt das Unternehmen in Sachen GenAI?
Wir verfahren ähnlich wie im Cloud-Computing. Wir verfolgen eine hybride Strategie. Natürlich nutzen wir für Standard Cases das, was Big-Techs wie Microsoft, AWS, Google usw. anbieten. Sobald es aber unsere eigene IP, unser Domänenwissen, betrifft und wir eigene Daten benötigen, um eigene Modelle zu generieren, gehen wir einen anderen Weg. Da haben wir einen eigenen Stack mit eigenen Rechenzentren, mit eigener Technologie und mit Partnern wie Aleph Alpha, deren Produkte wir „private“ deployen können. Wenn es bestimmte Modelle am Markt nicht gibt, entwickeln wir diese auch selbst, wenn das notwendig ist.
Abb.1_Bosch bei der Einführung von KI-Technologien.
Noch mal kurz zur Partnerschaft mit Aleph Alpha. Sind die so gut wie Microsoft und Google oder gibt es andere Gründe für die Partnerschaft zum Beispiel mehr Unabhängigkeit von US-Playern?
Die sind gut, sonst würden wir nicht mit ihnen partnern. Aber sie sind anders. Meine persönliche Einschätzung ist, dass Aleph Alpha kein Anbieter von General Purpose GenAI ist, dessen Ansinnen es ist, ein großes Sprachmodell zu betreiben, das auf dem gesamten Textkorpus des Internets trainiert ist. Ihre Stärke ist die Deploybarkeit auf On-premises und der damit zusammenhängende Schutz der jeweiligen Unternehmensdaten. Außerdem sind sie sehr gut bei der Nachvollziehbarkeit ihrer Ergebnisse. Ihre Modelle müssen allerdings häufig noch feinjustiert werden. Das ist aber absolut okay, weil wir die Daten, die dazu nötig sind, ohnehin in der eigenen Firma halten wollen.
››Bei GenAI gibt es Copyright- und Haftungsfragestellungen‹‹
Ganz andere Frage: Bosch ist ein internationaler Konzern und kann sich die frühe und intensive Beschäftigung mit KI leisten. Können das kleinere und mittelständische Unternehmen auch?
Absolut. Ich habe am Anfang schon über die Demokratisierung dieser Technologie gesprochen. Die Komplexität wird durch den Service-Charakter, in dem die Technologie angeboten wird, quasi wegabstrahiert. Das ermöglicht es auch kleineren Unternehmen, ohne großes Anfangsinvest einzusteigen. Natürlich braucht man nach wie vor eine gewisse IT-Expertise und man muss wissen, welche Use Cases die richtigen für das eigene Unternehmen sind.
Sie haben Risiken bereits mehrmals angesprochen. Welche Risiken sind denn in Zusammenhang mit GenAI besonders groß?
Den drohenden Informationsabfluss haben wir zumindest indirekt thematisiert. Niemand sollte IP-sensitive Daten in ein öffentliches System bringen. Das lässt sich über Schulung der Mitarbeitenden adressieren. Weiteres großes Risiko: blindes Vertrauen. Die Systeme halluzinieren. Das ist nur sehr bedingt lustig. Denken Sie nur daran, wenn ein System einem Kunden bei einer Supportanfrage Unsinn erzählt. Der Kunde glaubt das, führt das aus und zerstört dabei das von ihm gekaufte Produkt oder verletzt sogar sich oder jemanden anderen. Als drittes Risiko würde ich unethisches Verhalten und Reputationsschäden nennen. Stellen Sie sich vor, eine solche Maschine würde sich im Dialog mit Kunden rassistisch äußern. Deshalb ist es zentral, dass immer ein Mitarbeitender mit im Loop ist. Und viertens gibt es natürlich legale Risiken. Copyright-Verletzungen zum Beispiel. Das Letzte gilt eher allgemein und ist nicht unternehmensspezifisch. Die Diskussion um Deep Fakes, die sich mit diesen Technologien in bisher nicht gekannter Qualität herstellen lassen, zeigen auch, wie potenziell gefährlich solche Tools auch gesellschaftlich sein können.
Dr. Andreas Nauerz ist seit 2023 CTO von Bosch Digital und als Executive Vice President Teil des Bereichsvorstands. Vor seinem Engagement bei Bosch, das für ihn 2019 in der zentralen Forschung begann, hat er für verschiedene amerikanische Softwarehäuser und lange für IBM gearbeitet. Dort zuletzt in der Rolle als Program Director für das Serverless Compute Program des Herstellers. Die Bosch Digital ist mit rund 11.500 Mitarbeitenden der interne IT- und Digital-Enabler der Robert Bosch GmbH.
Das Interview führte Christoph Witte.