JavaSPEKTRUM: Mehr Kooperation als Wettbewerb in Bezug auf KI haben Sie kürzlich in einem LinkedIn-Beitrag gefordert. Wieso denken Sie, dass uns das Kooperationsmodell schneller weiterbringt als der Wettbewerbsansatz?
Bendiek: In dem Beitrag, den Sie erwähnen, hatte ich den Technik-Ethiker Thilo Hagendorff zitiert, der vor einer „Rhetorik des Wettrüstens“1 in der Diskussion um die Entwicklung von KI warnt, weil er befürchtet, dass der globale Austausch in der Wissenschaft leidet, wenn wir immer nur über den Wettkampf zwischen Europa, China und den USA sprechen. Das heißt natürlich nicht, dass ich grundsätzlich gegen Wettbewerb bin, im Gegenteil. Aber ich glaube tatsächlich, dass wir im KI-Zeitalter mehr Zusammenarbeit und ganz neue Allianzen brauchen, um das gewaltige Potenzial dieser Technologie voll auszuschöpfen. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PwC2 prognostiziert, dass Deutschlands BIP durch den Einsatz von KI bis 2030 um insgesamt rund 430 Milliarden Euro steigen wird. 40 Prozent würden Effizienzgewinne beisteuern, aber 60 Prozent dieses gewaltigen Potenzials steckt in innovativen Produkten, Services und Geschäftsmodellen auf KI-Basis.
Um dieses Potenzial voll auszuschöpfen, müssen wir Wissenschaft und Wirtschaft besser vernetzen, um die starke deutsche Grundlagenforschung in marktfähige Produkte zu übersetzen. Wir müssen sowohl das Tempo der technologischen Umsetzung steigern als auch die KI-Kompetenz in jedem einzelnen Unternehmen deutlich verbessern – vor allem auch im deutschen Mittelstand. Und wir müssen uns noch mehr öffnen: für innovative Formen der Zusammenarbeit innerhalb und außerhalb von Unternehmen, für neue Partnerschaften auch über Branchengrenzen hinweg. Wir brauchen tatsächlich eine Art „Allianz des technologischen Fortschritts“.
››...so besteht doch die Gefahr, dass die Umsetzung der nationalen KI-Strategie zu einem bürokratischen und allzu langsamen Prozess wird‹‹
Wie könnte das auf Unternehmensebene funktionieren? Gibt es innerhalb des Microsoft-Ökosystems nachahmenswerte Beispiele?
Microsoft hat sich in den vergangenen Jahren stark geöffnet. Offenheit und Kooperation sind inzwischen feste Bestandteile unseres gesamten Geschäftsmodells. Voraussetzung ist das Selbstverständnis, stets als Partner und nie als Wettbewerber unserer Kunden zu agieren. Dazu gehört auch die Tatsache, dass wir unseren Kunden grundsätzlich technologisch offene Lösungen anbieten, die es ihnen erlauben, auch andere Anbieter oder Betriebssysteme zu integrieren.
Wir haben uns bewusst für ein Open-Source-Konzept entschieden und bieten sogar Werkzeuge zur Remigration von Office und Azure an, um sogenannte LockIn-Effekte zu vermeiden. Gleichzeitig garantiert unsere weltweite „Shared Innovation Initiative“ unseren Kunden, dass sie bei der gemeinsamen Entwicklung von Technologien sämtliche Patente und Designrechte besitzen – und nicht Microsoft. Wir sind meines Wissens nicht nur das erste, sondern immer noch das einzige Technologieunternehmen, das seinen Kunden diese Klarheit und Sicherheit bieten kann. Unser Ziel ist es, Unternehmen aller Branchen und Größen mit Technologien, Knowhow, Erfahrung und unserem starken Partnernetzwerk so zu unterstützen, dass sie selbst zu Anbietern von digitalen Lösungen werden können. Und das funktioniert. Immer mehr Kunden, zum Beispiel im Automobilbereich, werden zu Partnern, die gemeinsam mit uns innovative digitale Lösungen und ganz neue Geschäftsmodelle entwickeln.
Viele Softwareunternehmen pflegen vielfältige, kooperative Beziehungen zur Developer-Community. Kann man daraus für einen kooperativen KI-Ansatz lernen? Wenn ja was?
Microsoft versteht sich als „Developer-first company“, das heißt, wir bemühen uns grundsätzlich darum, Entwickler dabei zu unterstützen, schneller zu den besten Lösungen zu gelangen. Das war auch das erklärte Ziel bei der Übernahme von GitHub. Auch in Zukunft wird GitHub unabhängig operieren und als zentraler Knotenpunkt der globalen Entwicklergemeinschaft fungieren. Microsoft ist übrigens eines der weltweit aktivsten Unternehmen auf GitHub mit mehr als zwei Millionen Beiträgen, den sogenannten „Commits“, zu verschiedensten Softwareprojekten. Gleichzeitig sind immer mehr unserer Entwicklertools und Frameworks „Open Source“. Und im Bereich KI, der wahrscheinlich wichtigsten Zukunftstechnologie, haben wir uns explizit dazu verpflichtet, den Zugang zu „demokratisieren“, das heißt für jeden möglichst einfach nutzbar zu machen – allerdings mit einer Maßgabe: Der Mensch muss bei der Entwicklung von KI-Lösungen immer im Mittelpunkt stehen.
››Wir müssen Wege finden, um nicht nur die künstliche, sondern auch die menschliche Intelligenz zu fördern‹‹
Inzwischen scheint Deutschland in Sachen KI aufgewacht zu sein. Mehrere Ministerien, Agenturen und Kommissionen kümmern sich um das Thema. Halten Sie den Ansatz für ergebnisorientiert und erfolgsversprechend? Sehen Sie bessere alternative Vorgehensweisen?
Tatsächlich gibt es inzwischen eine Vielzahl von Initiativen – und das ist erst einmal positiv. Um das Thema KI kümmern sich gleich mehrere Ministerien, unterstützt durch den Digitalrat der Kanzlerin, durch die Staatsministerin für Digitalisierung, durch die Agentur für Sprunginnovation oder die Enquete-Kommission „Künstliche Intelligenz“ im Deutschen Bundestag. Entsprechend vielfältig sind die Töpfe, aus denen das Geld für die versprochene KI-Förderung fließen soll – und die Ziele, die verfolgt werden. So wichtig all diese Ziele und so erfreulich die Vielfalt der Akteure auch sein mögen, so besteht doch die Gefahr, dass die Umsetzung der nationalen KI-Strategie zu einem bürokratischen und allzu langsamen Prozess wird. In Ländern wie Großbritannien, Südkorea oder China gibt es zentrale Organisationseinheiten zur Steuerung und Umsetzung der nationalen Strategie. Vielleicht könnte eine solche, mit den notwendigen Kompetenzen und Machtbefugnissen ausgestattete Institution, die unterschiedlichen Ziele von Ministerien, Bundund Ländern nicht nur koordinieren, sondern gegebenenfalls auch schnell korrigieren. Denn das Tempo der technologischen Veränderung nimmt weder Rücksicht auf politische Befindlichkeiten noch auf tradierte Entscheidungsprozesse.
››Was Europa meiner Meinung nach nicht hilft, ist der Versuch, eine eigenständige europäische Cloud komplett neu zu bauen‹‹
Wenn es um Digitalisierung geht, betonen Sie die Notwendigkeit von Weiterbildung und lebenslangem Lernen, damit die Menschen die Digitalisierung unserer Welt positiv mitgestalten können. Was muss sich in Deutschland/Europa ändern, um möglichst vielen Menschen diese Möglichkeit zu eröffnen.
Tatsächlich führt die Digitalisierung zu einem gewaltigen „Jobshift“. Nach Berechnungen des Bundesarbeitsministeriums werden bis 2025 durch Automatisierung und den Einsatz Künstlicher Intelligenz rund 1,6 Millionen Arbeitsplätze in Deutschland verschwinden – während gleichzeitig etwa 2,3 Millionen neue Jobs geschaffen werden – eine gute Bilanz, wenn es uns gelingt, rechtzeitig auf die neuen Aufgaben vorzubereiten. Schon heute stehen Unternehmen vor der doppelten Herausforderung, neue Fachkräfte zu gewinnen und bestehende Belegschaften für die digitale Arbeitswelt zu qualifizieren. Wir müssen deshalb dringend neue Wege finden, um nicht nur die künstliche, sondern auch die menschliche Intelligenz zu fördern. Deshalb hat Microsoft gemeinsam mit Partnern aus der Wirtschaft, dem Hochschulbereich, aus Politik und Verbänden eine breit angelegte Qualifizierungsinitiative gestartet.
Wie setzen Sie das Thema Weiterbildung im eigenen Unternehmen um?
Natürlich unterstützen wir unsere Mitarbeiter mit digitalen Lernlösungen, die sich flexibel in den Arbeitsalltag integrieren lassen. Aber vor allem versuchen wir, eine Unternehmenskultur zu schaffen, in der Lernen und Arbeiten nicht mehr getrennt voneinander gedacht werden können. 2018 haben wir die Position eines Chief Learning Officers (CLO) geschaffen, um den Gedanken einer neuen Lernkultur noch stärker im Unternehmen zu verankern.
Microsoft ist mit Azure einer der großen Cloud Hyperscaler. Wie entwickelt sich das Thema Cloud in Deutschland aus Ihrer Sicht?
Deutsche Unternehmen haben längst ihre Zurückhaltung aufgegeben und in den Cloud-Modus geschaltet: 73 Prozent der Unternehmen nutzen bereits Cloud-Lösungen, weitere 19 Prozent bereiten sie vor – und nur für acht Prozent ist die Cloud kein Thema, wie der Cloud-Monitor von Bitkom und KPMG zeigt. Jetzt muss auch die Verwaltung schleunigst eigene Cloud-Kompetenzen aufbauen, um mit der Entwicklung Schritt halten zu können. Schafft sie den Anschluss nicht, drohen auf Dauer Nachteile für den Standort Deutschland.
Auf nationaler Ebene wird derzeit gerade das Thema Digitale „Souveränität“ breit diskutiert, und in diesem Zusammenhang machen auch Forderungen nach dem Aufbau einer deutschen oder europäischen Cloud die Runde. Doch in Zeiten globaler Datenströme bemessen sich diese eben nicht mehr an nationalen Grenzen, sondern an technologischen Kompetenzen, dem notwendigen Wissen für unabhängige Entscheidungen und den erforderlichen Fähigkeiten für selbstbestimmtes Handeln. Konkret bedeutet das: Staaten müssen sicherstellen, dass Cloud-Anwendungen für Regierung, Parlament und Behörden dem Einfluss anderer Staaten oder Unternehmen entzogen sind. Was Europa meiner Meinung nach nicht hilft, ist der Versuch, eine eigenständige europäische Cloud komplett neu zu bauen. Denn das würde bedeuten, viel Zeit und noch mehr Geld zu investieren, um eine bereits ausgereifte und frei verfügbare Technologie neu zu erfinden - ohne dass damit gesichert wäre, dann mit den um ein Jahrzehnt enteilten Technologieführern mithalten zu können. Geld wie Programmierer würden derweil an anderer Stelle fehlen, zum Beispiel bei der Entwicklung wettbewerbsfähiger europäischer KI-Lösungen.
Sabine Bendiek übernahm im Frühjahr 2016 den Vorsitz der Geschäftsführung der Microsoft Deutschland GmbH. Sie kam vom Speicher-Spezialisten EMC zu Microsoft. Vor der Übernahme von EMC durch Dell arbeitete sie in führender Position für den PC-Hersteller. Die gebürtige Kielerin studierte BWL und machte zunächst bei McKinsey und Booz Allen als Beraterin Karriere.
2https://www.pwc.de/de/business-analytics/sizing-the-price-final-juni-2018.pdf
Das Interview führte Christoph Witte, E-Mail: cwitte@wittcomm.de, Fotoquellen: Microsoft