Wenn der Coach sagt ‚Du hast das falsche Mindset', ist das eine Ausrede, dass er seinen Job nicht richtig macht.
Aber der Reihe nach. In einer Runde von Beratern und Coaches bei einem Kunden sagte letztens plötzlich ein Agile Coach: „Mein Team hat voll das falsche Mindset. Kannst nicht arbeiten mit denen.“ Oh. Das ist hart. Und bringt zwei Probleme der „Branche“ zum Vorschein.
Problem 1: Das Mindset ist.
Ja genau. Das Mindset ist. Nicht mehr und nicht weniger. Es ist aber weder falsch noch richtig. Wir alle sind davon geprägt, was wir erlebt haben. Immer und überall. Ein Mechanismus, der da läuft, ist der Reality Loop:
- Wir machen eine Erfahrung.
- Denken uns unseren Teil.
- Aktualisieren damit unsere Glaubenssätze usw.
- Mit dieser neuen Brille und mit diesen Filtern betrachten wir die Umwelt.
- Und machen Erfahrungen.
Diese und andere Schleifen laufen kreuz und quer den ganzen Tag. Dazu kommen Rückkopplungen, signifikante emotionale Ereignisse und daily business. Und aus der ganzen Gemengelage entsteht halt dieses Mindset – so schauen wir auf die Welt.
Wir können darüber sprechen, ob das für eine Situation, für ein Projekt oder für uns förderlich ist – oder ob es eher blockiert. Aber auch hier gibt es kein Schwarz/Weiß. Denn das Mindset hat sich bis dahin bewährt, sonst hätten wir es ja nicht.
Wenn wir es ändern wollen – ok. Aber jemandem ein falsches zu unterstellen, ist weder wertschätzend noch hilfreich.
Problem 2: Walk the Talk
Das zweite Problem ist für mich gerade noch prägnanter. Wir geben uns in der agilen Bubble immer super-werteorientiert: Offenheit, Feedback, Toleranz, Wertschätzung, Kommunikation, Selbstverantwortung usw. – kommt alles zusammen, wird es richtig schön agil ... also zumindest, solange es nach der Vorstellung von manch einem Coach geht. Denn bei einigen hört da der Spaß schnell auf, wenn es nicht nach deren Vorstellung läuft. Wenn sich ein Team nicht wie gewünscht entwickelt, wenn sie ihre eigene Art der Kommunikation haben. Da ist es bei einigen Coaches vorbei mit Offenheit und Wertschätzung und Selbstverantwortung.
Und das gipfelt dann in „Ihr habt das falsche Mindset“. Für mich stecken da zu viele Dogmen dahinter, die gar nicht agil sind. Denn im Agilen gibt es kein „so ist es richtig“.
Disclaimer: Natürlich gibt es auch ganz viele andere Coaches und ich nehme mich da auch selbst nicht aus, hier in die Falle der Selbstgefälligkeit zu tappen. Das ist ein Problem von uns allen im Coaching/Consulting. Wir sollten uns immer wieder daran erinnern, dass es menschelt, wo Menschen sind.
Schnelle Lösung
Die gibt es natürlich nicht. Im Endeffekt läuft die Veränderung des Mindsets auf einen sehr individuellen Zugang raus:
- Einen Impuls bekommen.
- Etwas ausprobieren.
- Erfahrung machen und bewerten.
- Lernen und Integrieren – oder auch nicht.
Und das braucht Zeit. Der Fokus liegt da meiner Erfahrung nach bei den Punkten 2 und 3: Etwas ausprobieren und Erfahrung machen. Und das tun wir viel zu wenig. Wir schwafeln in Dailys, Retros, Meetings und Workshops, machen Befindlichkeitsrunden, Assessments und Interviews – wir sind beschäftigt, aber wir tun nichts. Und das führt zur Stagnation.
Statt Methoden und Frameworks den Menschen in den Mittelpunkt stellen – mit all seinen Befindlichkeiten, Ängsten und Wünschen – so wird meiner Meinung nach ein agiler Schuh draus.
Aber das ist auch nur meine Wahrheit ;-)
Viele Grüße
Richard Seidl