In dieser Kolumne publizieren ausgewählte Experten und Marktbeobachter ihre Einschätzung aktueller IT- und Digitalisierungsthemen. Der KI-Experte Dr. Stefan Wess von Empolis macht sich in dieser und folgenden Kolumnen Gedanken zum Thema KI.
„Wenn es funktioniert, ist es keine KI mehr!“ Diesen Satz sagte Professor Jörg Siekmann – später Mitgründer des DFKI – in seinen KI-Vorlesungen an der TU Kaiserslautern immer und immer wieder. Auch heute, über 30 Jahre später, bleibt seine Erkenntnis aktuell.
Mit mehr als 611.000 Erwähnungen in den deutschen Medien innerhalb nur eines Monats erreicht der KI-Hype in Deutschland ein neues Hoch. Und viele stellen sich dabei die Frage: Wird es Software mit eigenem Bewusstsein tatsächlich schon in naher Zukunft geben oder können wir die aktuellen Berichte unter Hype verbuchen und einfach ignorieren? Die klare Antwort ist: weder noch!
Keine andere Softwaretechnologie wird gleichermaßen so unter- und überschätzt wie die KI. Warum? Wir Menschen lieben Magie. Obwohl wir wissen, dass Magier gar nicht zaubern können, schauen sich Millionen von Menschen die zahlreichen Bühnenshows an. Entpuppt sich die vermeintliche Magie hinter den Kulissen als einfache Mechanik, ist unsere Enttäuschung groß. Tief im Inneren verspüren wir die Sehnsucht nach echter Magie.
Mit der künstlichen Intelligenz ist es ganz ähnlich: Uns fasziniert die Vorstellung von intelligenten Maschinen, ob nun gut oder böse. Wenn wir aber verstehen, dass der magisch erscheinende Effekt von künstlicher Intelligenz bisher nur auf Mathematik und Berechnung beruht, ist unsere Enttäuschung groß und wir träumen von mehr.
Die Ziele des bereits im Jahr 1956 aus der Taufe gehobenen Fachgebiets KI würde man heute daher wohl als Moonshot Thinking bezeichnen – also die Vorstellung, etwas wirklich völlig Neues und Revolutionäres erschaffen zu können. Die Erfolge auf dem bisherigen Weg sind aber durchaus bemerkenswert. Sie haben unseren Alltag und die Softwareentwicklung bereits nachhaltig verändert. Ob Fahrzeug-Konfiguratoren, Empfehlungs-Algorithmen, Spamfilter, Geschäftsregeln oder Navigationssysteme: All das sind ganz objektiv betrachtet (Teil-)Ergebnisse der KI-Forschung. Anders als zum Zeitpunkt der Entwicklung würde wohl niemand diese Software heute als intelligent bezeichnen. All diese Technologien sind inzwischen längst im Informatik-Mainstream angekommen. Neben der Programmiersprache SIMULA-67 bilden sicher auch Marvin Minskys Gedanken zu FRAMES aus seinem Artikel „A Framework for Representing Knowledge“ (1974) die Grundlagen für den späteren Erfolg der Objektorientierung und vieler objektorientierter Programmiersprachen.
Die heute so aktuellen und vieldiskutierten neuronalen Netze gehen im Kern sogar auf eine Arbeit von McCulloch und Pitts aus dem Jahr 1943 zurück. Sie erlebten bereits in den 90er Jahren eine Hochphase und sind heute allgegenwärtig in unseren Häusern, Autos und Fabriken – meistens in Hardware – realisiert und als Regeltechnik getarnt.
Die neuen neuronalen und datengetriebenen Algorithmen sind in ihrer Leistungsfähigkeit dem Menschen inzwischen in einigen Disziplinen ganz klar überlegen. Diese Verfahren sind, wie auch alle ihre Vorgänger, gekommen um zu bleiben. Sie werden unsere Software verändern und vielleicht sogar ihre Entwicklung dominieren.
Aber ganz gleich, unter welcher Bezeichnung wir die Vielfalt an wissensbasierten, datengetriebenen und lernenden Algorithmen in der Zukunft in unserer Software nutzen werden, eine „künstliche Intelligenz“ im Sinne der ursprünglichen Definition aus 1956 oder dem Turing Test von 1950 ist noch lange nicht in Sicht. KI steht weiterhin und ganz im Sinne des Gedankens aus der Überschrift als Abkürzung für eine „Künftige Informatik“ und bleibt – wie schon in den vergangenen 60 Jahren – ein wichtiger Treiber und Vordenker in der Softwaretechnik.