Diversity-Management kann Unternehmern einen Ausweg aus dem Fachkräftemangel eröffnen und Bewerberinnen und Bewerbern neue Chancen. Denn Bewerber, die bei standardisierten Mustern durchs Raster fallen, könnten auf den zweiten Blick genau die Richtigen für die Stelle sein. Das hilft beiden Seiten.
Doch wie gelingt es, Diversity-Management in die Prozesse des Personalwesens zu integrieren? Im ersten Schritt sollten die Auswahlkriterien für eine vermeintlich perfekte Bewerbung überdacht werden. Gerade in Deutschland ist nach Einschätzung von Experten die Suche nach dem idealen Kandidaten innerhalb eines zu eng definierten Auswahlkorridors ein weitverbreitetes Phänomen – während beispielsweise im angloamerikanischen Raum eine viel größere Flexibilität und Offenheit herrscht. Hinzu kommt dort eine höhere Wertschätzung für Menschen mit Lebensläufen, die gerade aufgrund ihrer Vielfalt oder Andersartigkeit eine Bereicherung sein können.
Unternehmer klagen hierzulande häufig darüber, keine passenden Kandidaten zu finden. Dass der sogenannte Fachkräftemangel zumindest teilweise auch daraus resultiert, dass die Auswahlkriterien in Bewerbungsverfahren keine Abweichung von der Norm zulassen, ist nicht von der Hand zu weisen. Gesucht werden oft Bewerber im Alter von 30 bis 40 Jahren, mit gutem Schulabschluss, einem erfolgreichen Universitätsabschluss, fachlicher Expertise, Branchenerfahrung und bisherigen Karriereschritten, die logisch aufeinander aufbauen und scheinbar geradewegs auf die neue Stelle hinführen. Wird dieser ideale Kandidat nicht eindeutig identifiziert, bleibt die Stelle unbesetzt. Oder aber es werden nur die wenigen Bewerber zum Gespräch eingeladen, die wirklich alle Kriterien aus der Stellenbeschreibung erfüllen.
Genau an diesem Punkt kann es jedoch lohnend sein, einmal gedanklich innezuhalten und sich ehrlich und selbstkritisch mit einigen wichtigen Fragen auseinanderzusetzen: Wissen wir eigentlich wirklich so genau, wie wir personell jetzt und in der Zukunft aufgestellt sein müssen, um erfolgreich zu sein – und wen wir dafür suchen? Welche persönlichen Eigenschaften brauchen wir dafür, neben den fachlichen Skills?
Umdenken auf den Chefetagen gefragt
Die moderne Arbeitswelt ist ständigen Veränderungen und Weiterentwicklungen unterworfen, die Komplexität von Themen und Aufgaben nimmt permanent zu. Unternehmer wünschen sich vor diesem Hintergrund Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die proaktiv mitdenken, fachübergreifend über den Tellerrand hinausblicken, sich engagieren und sich einbringen. Das erfordert in vielen Firmen ein Umdenken bei der zukünftigen Personalauswahl. Ein Umdenken, das in den Chefetagen beginnt: Viel mehr als früher üblich, sollten Unternehmensund HR-Leitung ihren Fokus neben der fachlichen Eignung auch verstärkt auf die vielfältigen sozialen Kompetenzen von Bewerbern legen. Um den komplexen Anforderungen jetzt und zukünftig gewachsen zu sein, brauchen Unternehmen agile Strukturen, um zu besseren Ergebnissen zu kommen.
Nicht-lineare Lebensläufe lohnen einen zweiten Blick
Es kann sinnvoll und hilfreich sein, wenn Kandidatinnen und Kandidaten bereits Erfahrungen in anderen Branchen gesammelt haben, denn breit gefächerte Kenntnisse helfen bei der Suche nach Lösungen. Gerade die nicht-linearen Lebensläufe oder ungewöhnlichen Bewerbungen lohnen den zweiten Blick: Wer schwierige Zeiten und persönliche Herausforderungen erlebt hat und dafür Lösungsstrategien entwickeln konnte, weil eben nicht alles glatt lief, bringt höchstwahrscheinlich einen großen Erfahrungsschatz, mehr Sozialkompetenz und eine höhere Resilienz mit – Skills, die ein auf den ersten Blick viel geradlinigerer Kandidat vermutlich weniger erlernen und erproben konnte.
Daher lohnt es sich für Unternehmer, Mut zum Diversity-Management zu zeigen, denn das Umdenken eröffnet gleichzeitig neue Chancen: zum Beispiel für Menschen jenseits der 50 mit viel Lebens- und Berufserfahrung sowie für Menschen aus anderen Kulturkreisen. Auch die Einstellung von Frauen ist in bestimmten Funktionen und Berufen bis heute keine Selbstverständlichkeit: In den Köpfen so mancher männlichen Chefs herrscht noch immer die Vorstellung, dass männliche Mitarbeiter „besser“ geeignet oder belastbarer seien.
Dabei kann die Anstellung von Bewerberinnen gerade in eher männlich geprägten Berufsfeldern wie zum Beispiel der IT-Branche ein Ausweg aus dem Fachkräftemangel sein, denn in diesem Bereich ist die Fachkräftelücke so groß wie nie. Besonders Informatiker und Softwareentwickler sind knapp, zeigt eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft. Und: Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz wirke bisher kaum. Würden die Personalabteilungen von den üblichen engen Auswahlkriterien abweichen, könnten dank Diversity-Management sicher viele der derzeit mehr als 28.000 offenen Stellen in Deutschland in diesem Bereich besetzt werden.
Diversity ist ein Lösungsansatz, um die breit gefächerten Kompetenzen der gesamten Belegschaft offen unter die Lupe zu nehmen und dafür althergebrachte Auswahlkriterien im Recruiting über Bord zu werfen. Die Herausforderung dabei: Wer einst selbst mit inzwischen veralteten Denk- und Verhaltensmustern in Unternehmen eingestellt wurde und später Karriere machte, wird diese Muster möglicherweise unbewusst auch selbst anwenden. So entsteht ein Domino-Effekt, der langfristig notwendige Veränderungen bei der Personalauswahl blockiert.
Gutes Personal an sich binden durch Diversity-Management
Da der Trend in Richtung anhaltender Fachkräftemangel sowie eines Arbeitnehmermarktes immer deutlicher erkennbar wird, werden mittel- und langfristig Firmen, die sich nicht offen für Diversity-Management zeigen, gutes Personal an innovativere Unternehmen verlieren.
Unternehmer sollten erkennen, dass die Fortsetzung bestehender, standardisierter Prozesse zur Personalsuche immer weniger dazu führt, die wirklich geeigneten Fachkräfte zu finden. Sie werden erfahren, dass es gut ist, Kandidatinnen und Kandidaten zu finden, unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Herkunft, ihrer sexuellen Ausrichtung und auch unabhängig von ihrem Alter.
Oft wird übersehen, dass eine Gruppe potenziell wirklich wertvoller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in standardisierten Verfahren ohnehin unberücksichtigt bleibt, nämlich ältere Mitarbeiter. Viele Kandidatinnen und Kandidaten, die jenseits der 50 auf Stellensuche sind, erfahren dieses leidvoll durch einen größeren Zeitaufwand, die richtige Aufgabe zu finden.
Abb. 01: Bewerbungsgespräch
Der Grund: Die Kandidaten bleiben oft bereits aufgrund ihres Alters schon bei der Vorauswahl unberücksichtigt. Ein fataler Fehler: Viele dieser Bewerberinnen und Bewerber sind hochqualifizierte und hochmotivierte Fachkräfte. Aber zu einem Interview kommt es dennoch nicht.
Tipps für Bewerberinnen und Bewerber
Und was können Bewerberinnen und Bewerber selbst tun, um beim Auswahlprozess nicht gleich durchs Raster zu fallen? Es gilt, sich vor allem die eigenen Stärken und den eigenen Mehrwert im Vergleich zu möglichen anderen Kandidaten bewusst zu machen. Klingt einfach – ist in der Praxis häufig jedoch schwieriger, als es zunächst scheint. Aber nur, wenn man sich der eigenen Kernkompetenzen bewusst wird und in der Lage ist, das auch mit Erfolgen der eigenen Vita zu belegen, ist man gut aufgestellt.
Außerdem sollten sich Bewerberinnen und Bewerber frühzeitig die konkrete und aktuelle Situation des Unternehmens genau anschauen, das eine Stelle ausgeschrieben hat, wenn sie sich dort bewerben möchten. Sie sollten sich dazu folgende Fragen beantworten: Was ist vermutlich für dieses Unternehmen in der momentanen und zukünftigen Marktsituation besonders wichtig? Welche Skills werden benötigt und wie passen diese Anforderungen zu meinem eigenen Profil? Ist mein Profil für das Unternehmen interessant und passt es zu dem, was ich selbst suche? Oft ist es hilfreich, sich dafür durch einen geeigneten Coach und Karriereberater unterstützen zu lassen.
Fazit
Vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels wird es für Unternehmen immer wichtiger, das Recruiting gut zu steuern. Anstatt auf den scheinbar perfekten Lebenslauf zu warten, sollten Personalabteilungen ihre Auswahlkriterien überdenken und Diversity-Management implementieren. Bewerberinnen und Bewerber, die bei standardisierten Prozessen durchs Raster fallen würden, können so auf den zweiten Blick genau die Richtigen für die Stelle sein. Sie bringen oft wertvolle soziale Skills und (Lebens-)Erfahrungen mit, die für das Unternehmen von großem Wert sein können.