Herr Dr. Nusswald, Sie sind seit 14 Jahren als CIO in verschiedenen Unternehmen tätig. Welche Veränderungen in Ihrer Aufgabe, in Ihrem Job sind die auffälligsten gewesen?
Martin Nusswald: Das sind in der Tat einige Jahre. Aber durch viele große Projekte – von ERP-Ablösungen über IT-Reorganisationen bis Carve Outs von großen Bereichen – ist für mich die Aufgabe des CIOs immer sehr spannend geblieben. Für mich hatten die technischen Veränderungen in dieser Zeit nicht die dominierende Rolle. Die Cloud war in dieser Zeit zwar ein sehr wichtiges Thema, aber nicht disruptiv. Ähnliches gilt für die Entwicklung der Arbeitsmethoden und Vorgehensweisen. Agile ist in der Tat bedeutend, aber im Grunde auch eine evolutionäre Weiterentwicklung der Methoden. Disruptiv dagegen ist die enorme Zunahme der Veränderungsgeschwindigkeit. Wir machen heute unglaublich viel parallel, was wir früher eher sequenziell abgearbeitet haben. Das mag mit der Größe und Komplexität unserer Organisation zusammenhängen, aber die Verzahnung und Abstimmung der einzelnen, parallel laufenden Vorhaben ist deutlich komplexer geworden, als das zu Anfang meiner Karriere war.
Wie steht es um das Verhältnis von IT und Business, hat sich das in den 14 Jahren Ihres CIO-Lebens ähnlich stark verändert?
Ja, das hat sich ebenfalls signifikant verändert. Vor anderthalb Jahrzehnten haben Geschäftsführer und Vorstände IT als einen Bereich betrachtet, der PCs installiert oder umzieht, E-Mail zur Verfügung stellt und für Internetverbindung sorgt. Die Einschätzung, dass es sich bei IT um ein Randthema handelt, hat sich komplett gewandelt. Mit der Digitalisierung ist die IT sehr stark in den Mittelpunkt gerückt. Heute sagt eines unserer Vorstandsmitglieder zum Beispiel: No IT without Business and no Business without IT.
"IT ist heute ein absoluter Business-Enabler."
Unser Geschäft funktioniert einfach nicht mehr ohne IT und das gilt ebenfalls für viele andere Branchen. Das geht weit über pure Verfügbarkeit hinaus. Die meisten Businessmanager haben die Bedeutung von IT für Effizienz, Geschwindigkeit und Flexibilität erkannt. Wir arbeiten mittlerweile sogar an neuen Geschäftsmodellen, die IT-basiert sind.
Unabhängig vom Unternehmen, gibt es eine Aufgabe, die CIOs heute mit hoher Dringlichkeit bewältigen sollten?
Ein heutiger CIO muss weiter an der Brücke bauen zwischen IT und Business. Da hat sich wie beschrieben schon vieles getan, aber es gibt weiterhin Verbesserungsbedarf. Die zweite zentrale Aufgaberichtet sich stärker nach innen: das permanente Hinterfragen der eigenen IT-Organisation und die sich daraus ergebende ständige Optimierung. Angesichts der Menge und der Geschwindigkeit der Veränderungen führt daran kein Weg vorbei.
Sie haben kürzlich in einer Veranstaltung von VOICE – Bundesverband der IT-Anwender über die Digitalisierungsbestrebungen bei thyssenkrupp gesprochen. Das Motto lautet „Materials as a Service“ Was meinen Sie mit dieser widersprüchlichen Formulierung?
››Wir werden zu einem Unternehmen, das Werkstoffe als Dienstleistung anbietet‹‹
Der Kern von thyssenkrupp Materials Services ist mehr als 125 Jahre alt, und es ist uns immer wieder gelungen, uns neu zu erfinden und an die sich verändernden Marktverhältnisse und Bedürfnisse unserer Kunden anzupassen. Mit unserer Strategie „Materials as a Service“ bringen wir unsere Transformation vom klassischen Werkstoffhändler zu einem intelligenten und nachhaltig ausgerichteten Lieferkettenmanager auf den Punkt. Materials sind unser bisheriges Kerngeschäft, und wenn wir unsere Services ausbauen wollen, dann müssen wir uns auf sie ebenso konzentrieren wie früher auf das Material selbst. Aus dem ehemaligen Anbieter von „Materials and Services“, Werkstoffen und Dienstleistungen, werden wir zu einem Unternehmen, das Werkstoffe als Dienstleistung anbietet, also „Materials as a Service”.
Handelt es sich dabei auch um „artfremde“ Services oder drehen sich die Dienstleistungen künftig auch um Ihr Kerngeschäft?
Die Services, die wir realisieren, sind nicht immer unbedingt heute schon Bestandteil unseres Kerngeschäfts, aber sie werden mehr oder weniger direkten Bezug dazu haben. Zum Beispiel setzen wir bei den Services einen starken Fokus auf Supply-Chain-Management. Wir wollen mit digitalen Lösungen komplexe Lieferketten transparenter und widerstandsfähiger machen. Als Werkstoffhändler ist Supply-Chain-Management bereits heute Bestandteil unseres Kerngeschäfts. Dieses Know-how bringen wir ein. Das gleiche gilt für unser tiefes Marktverständnis, das wir aufgrund unserer Größe, unserer globalen Präsenz und unserer sehr breiten Partnerbasis mit 250 000 Kunden entwickeln konnten. Das versetzt uns in die Lage, Supply-Chain-Services zu entwickeln und im Markt anzubieten.
Haben Sie ein Beispiel für so einen Service?
Ein aktuelles Beispiel ist unser Forward-Sensing-Projekt. Heute reicht in Lieferketten die Transparenz in der Regel nur bis zur jeweils nächsten Ebene auf Kunden- und Lieferantenseite. Das heißt, ein Kunde hat die Information, welche Produkte sein direkter Lieferant wann liefern kann. Der Lieferant weiß entsprechend, welchen Bedarf der Kunde in der nächsten Zeit hat. Aber in der nächsten Ebene wird es häufig „dunkel“. Der Kunde weiß nicht, ob die Lieferanten seines Lieferanten demnächst zum Beispiel in Lieferengpässe geraten und er eventuell mehr auf Vorrat bestellen sollte. Der Lieferant dagegen weiß nicht, welche Bedarfe die Kunden seines Kunden haben und er deshalb vielleicht seine Kapazitäten aufstocken sollte.
Wir haben uns vorgenommen, über drei, vier und mehr Ebenen einer Supply-Chain Transparenz zu schaffen. Wir sammeln die entsprechenden Daten der beteiligten „Kettenglieder“ ein und bereiten sie so auf, dass für jedes angeschlossene Unternehmen einer Supply-Chain Transparenz hergestellt wird. Das spart enorme Kosten und verhindert stockende Supply-Chains auf Lieferanten- und Kundenebene. Wenn es gelingt, den sogenannten „Bullwhip-Effekt“ zu verhindern, also das Aufschaukeln von Beständen über die Ebenen einer Lieferkette aus Sorge vor drohenden Lieferengpässen, sind enorme Einsparungen möglichen. Darüber hinaus schaffen wir deutlich mehr Prozess- und Planungssicherheit und liefern einen wichtigen Beitrag für resilientere Lieferketten.
Digitalisierung hat nicht nur technische Herausforderungen, sondern auch vielfältige organisatorische. Wie stellen Sie die IT auf, damit sie mit den Anforderungen der Digitalisierung zurechtkommt?
Ich befolge da ein wichtiges Prinzip: Alle müssen mitwirken. Frühe Versuche, bei denen kleine Gruppen innerhalb der Unternehmen sich um Digitalisierung und die Transformation kümmern sollten, haben zwar geholfen, das Thema Digitalisierung begreifbarer zu machen. Dieser Ansatz aber reicht heute nicht mehr aus, wenn Digitalisierung das ganze Unternehmen durchdringen soll. Bei 500 IT-lern beispielsweise funktioniert es nicht, wenn sich nur 30 von ihnen um Digitalisierung kümmern sollen und die restlichen 470 per Definition nichts damit zu tun haben. Zu einer guten und nachhaltigen Transformation gehören alle Ebenen, auch alle Ebenen der IT. Nehmen wir zum Beispiel die IT-Infrastruktur, die die Basis für die Digitalisierung bildet. Wer ICE fahren will, braucht auch moderne Schienennetze und kann mit den Gleisen für einen Schienenbus in der Eifel nichts anfangen.
Ein weiterer extrem wichtiger Faktor ist Collaboration in mehrfacher Hinsicht: Wir müssen es einerseits in der IT schaffen, unsere Synergien global zu nutzen, ohne den Einheiten auf der lokalen Ebene unsere Lösungen ungefragt überzustülpen. Andererseits müssen IT und Business enger aneinanderrücken und die besten Ressourcen für die jeweilige Aufgabe bündeln.
››Das Ruhrgebiet ist die beste Region in Deutschland‹‹
Was tun Sie in Sachen Weiterbildung innerhalb der IT? Es gibt wahrscheinlich in einem Traditionsunternehmen wie Ihrem auch viele Mitarbeitende, die im Arbeitsleben vor der Digitalisierung sozialisiert wurden.
Wenn wir über Training und Weiterbildung sprechen, würde ich es in die zwei Aspekte fachlich und sozial unterteilen. Die fachliche Seite ist durchaus anspruchsvoll, weil sich alles sehr schnell entwickelt. Die Halbwertszeit des Wissens bemisst sich eher in Monaten als in Jahren. Daher gehen wir individuell vor. Innerhalb entsprechender Technologie-Projekte entwickeln wir Mitarbeitende per „learning by doing“. Darüber hinaus schicken wir unsere Experten gezielt in Schulungen und Weiterbildungen oder bieten Freiräume, in denen sich die Mitarbeitenden selbsttätig weiterbilden können. Die „Sozialisierung“, wie Sie es eben genannt haben, ist aber genauso wichtig und nicht weniger anspruchsvoll. Die Leute müssen sich auf eine neue Denkweise einlassen, auf neue Arbeitsmethoden, zum Beispiel auf Agilität, Remote-Arbeit und Organisationsveränderungen. Dadurch erfährt Change-Management eine zentrale Bedeutung. Das treiben wir sehr stark voran. In den größeren Bereichen laufen derzeit Change-Projekte, um die Mitarbeitenden auf die neuen Gegebenheiten und Anforderungen einzuschwören und sie auf dieser Reise zu unterstützen. Wir zielen in Richtung Spotify-Organisation oder, wie Gartner es bezeichnet, Richtung Fusion-Teams, aber das muss intensiv begleitet werden.
Gemessen auf einer Skala von eins bis zehn: Wo steht thyssenkrupp Materials Services und welchen Einfluss hat die Situation, in der der Konzern thyssenkrupp derzeit steckt?
Das auf einer Skala zu bewerten, greift zu kurz. Am Anfang der Digitalisierung haben wir uns etwas schwerer getan. Aber inzwischen – seit drei, vier Jahren – sind wir gut unterwegs und investieren kräftig in verschiedenste Projekte. Aber die Dinge brauchen auch Zeit: ERP und Infrastruktur gestalten sie global für 380 Standorte nicht über Nacht um. Beim Einsatz neuer Technologien sind wir inzwischen sehr gut unterwegs, etwa bei Artificial Intelligence, Machine Learning oder Advanced Analytics. Dazu kommen weitere Schnellboote wie RPA und Innovationen an der Kundenschnittstelle. Ich bin sehr optimistisch, dass wir in den kommenden zwei Jahren noch sehr große Fortschritte machen.
Prozess- oder kundengerichtet?
Der Kunden steht bei uns immer im Mittelpunkt. Aber natürlich sind effiziente Prozesse auch extrem wichtig. Dabei schauen wir auch in Prozesse, die früher nicht so im Fokus waren bei uns: Zum Beispiel Marketing unter der Fragestellung „Wie bekommen wir eine End-to-End-Digitalisierung des Marketings hin?“ Die Königsdisziplin sind No-Touch-Orders, die eine Digitalisierung der Prozesskette durch das gesamte Unternehmen erfordern. Bis zu diesem Ziel haben wir noch eine gute Strecke vor uns, auf der wir aber mit „ICE-Geschwindigkeit“ fahren.