Automatische Dokumentationsgeneratoren zählen – diversen drittklassigen Fachhochschulen sei Dank – zu den populärsten Erweiterungen für IDEs. Wir haben uns das Werk trotzdem näher angesehen. Der Autor beginnt mit dem Anwalt Paul Otlet: Wegen einer Meningitiserkrankung mit Schwächen im Bereich des Kurzzeitgedächtnisses weniger effizient, griff er auf ein ausgefeiltes System von Notizen zurück, um die im US-Bereich relevanten Gerichtsentscheidungen (Stichwort Case Law) besser im Blick zu behalten. Dass der Autor im Bereich der historischen Übersetzungsmaschinen nur auf Ardzrouni eingeht und seinen sowjetischen Kollegen Trojanskij (https://citeseerx.ist.psu.edu/viewdoc/download?doi=10.1.1.14.2564&rep=rep1&type=pdf) ignoriert, ist in Anbetracht der gebotenen Stoffübersicht verzeihbar. Neil Tennants berühmter Quip des “Where Lives exist as Information” entfiel dem Autor – in der Überlegung der Rolle von Dokumentation als Basis des Staatswesens fand der Rezensent indes Erwähnungen des indischen Kaghazi und License Raj, die das Zusammenspiel von Persistenz und Staatswesen anschaulich beleuchten. Interessant sind auch die Gedanken Ferraris zum iPad – einst von der österreichischen Regierungspresse als iFad betitelt – es ist am Ende trotz seiner nichtphysischen Tastatur ein Gerät, das Text höher gewichtet als Sprache. Mit dem Gedanken der delirious machine demonstriert das Buch die Risiken, die von übermäßig dokumentierten beziehungsweise dokumentgetriebenen Systemen ausgehen.
Der Mensch dokumentiert sich selbst
Journaling ist in Zeiten der Instagram-Influencer zum universell geflügelten Schlagwort geworden: In „Hyperdocumentation“ zeigt der Autor historische Analogien und geht auf die Geschichte und Rolle der Selbstdokumentation ein. Wie in den vorhergehenden Kapiteln finden sich hier durchaus kritische Überlegungen zu ungünstigen Nebeneffekten des hyperdokumentierten Menschen. Ab einer gewissen Datenmenge werden Informationen nur noch dann wertvoll, wenn sie in einem vernünftigen Indizierungsformat vorliegen: Auch hier finden sich diverse historische Beispiele, die als Impulsgeber für das Design neuartiger Systeme dienen können. Zu guter Letzt findet sich ein 35 Seiten langer Zusammenfassungstext eines Drittautors, der die von Olivier Le Deuff gemachten Feststellungen und Überlegungen in Form von vierzehn Postulaten festhält.
Ist es kaufbar?
Lob verdient „Hyperdocumentation“ unter anderem dafür, dass der Autor diverse „Extrakte“ aus Otlets Schaffen digitalisiert und als Illustrationen in das Lehrbuch einbindet. Käufer des leider nur über den lästigen Wiley Bookshelf lesbaren E-Books sehen diese direkt in Farbe, im Printbuch findet man URLs zum Herunterladen vor. Sonst bietet das Buch keinen Anlass zur Kritik – zumindest dann, wenn man mit geisteswissenschaftlichen beziehungsweise historischen Texten im Allgemeinen keine Probleme hat. Schade ist lediglich, dass der – im Allgemeinen neutral gehaltene Text – Beispiele für kritische oder negative Effekte der Dokumentation immer anhand konservativer politischer Systeme illustriert.
Fazit
Historie und Geisteswissenschaften im Allgemeinen sind nicht unbedingt Bereiche, die mit Informatik und Ingenieurwesen harmonieren. Andererseits formulierte schon die aus dem Videospiel Command & Conquer bekannte Figur Kane “He who controls the past, commands the future.” Das Buch ist mit Sicherheit ein Fehlkauf, wenn der Leser Futter für den Clinch gegen übertriebene Dokumentationsanforderungen sucht. Andererseits liefert das Werk einen Überblick über das „id“ der Dokumentation als Ganzes – wer Hintergrundwissen und Trivia schätzt, bekommt hier mehr, als er erwartet. In diesem Sinne Kaufempfehlung; gut geeignet auch für Gabentisch des man who has everything ...
Olivier Le Deuff
Hyperdocumentation
Seiten: 288 · Sprache: Englisch
Verlag: Wiley, 2021
ISBN Print: 978-1-786-30644-9