In Unternehmen sehe ich immer wieder zwei Arten der Führung und Zusammenarbeit: einerseits stark hierarchische Strukturen, meist in – sagen wir mal – traditionelleren Organisationen. Die Aufgaben purzeln die Führungsebenen hinunter, bis irgendwann irgendwas beim Mitarbeiter ankommt und er dies oder was Ähnliches tut. Meist gibt es hier viel Inselwissen und Experten, die in ihren Silos ihre Tasks erfüllen. Andererseits – meist unter der Prämisse „Wir arbeiten jetzt agil. Aber dalli.“ – gibt es solche Teams, die im Sitzkreis nach dem Konsens suchen. Jeder darf und muss beitragen, alles muss gesagt werden. Es wird diskutiert, bis alle glücklich sind. Denn wir wollen ja ein gleichwertiges Team sein, keiner wird benachteiligt. Wir haben uns alle lieb – piep, piep piep. Beide Extreme haben in manchen Situationen ihre Berechtigung, keine Frage. Manchmal braucht es starkes Durchgreifen, manchmal Einvernehmen.
Die Schattenseiten
Aber es gibt auch Schattenseiten. Die Probleme der „alten Hierarchien“ kennen wir zu Genüge. Oben versteht nicht, was unten passiert. Strategische oder Status-Spielchen, Fürstentümer, unbewusste Verfälschung der Aufträge. Dagegen die „Neuen“, die sich unendlich lange mit Themen beschäftigen können, ohne vorwärtszukommen, detailverliebt, träge. Noch schlimmer haben es Organisationen, die zwischen diesen Polen oszillieren:
- „Wir haben zu feste Strukturen. Wir müssen agil werden.“
- „Agil ist viel zu träge, immer nur Gelaber – da geht nichts weiter. Ich muss als Chef durchgreifen.“
- „Die Mitarbeiter fühlen sich nicht eingebunden, wir brauchen mehr Retros.“
- „Die Experten sind frustriert, weil sie immer alles bis zum Ende mitdiskutieren müssen.“
- ...
Experten auf Augenhöhe
Für mich steckt da viel falsch verstandener Agilität dahinter. Dieses arme Wörtchen muss ja schon für vieles herhalten. Und eben auch für ganz viel Konsens-Verzettelung. Da wundert es mich nicht, dass Führungskräften dann irgendwann der Geduldsfaden reißt. Ich glaube, es funktioniert nur, wenn wir die Polarität auflösen. Aber wie? Indem wir Leuchttürme vernetzen? Nein, nicht mit Smarthome-Projekten in Ostfriesland. Sondern indem wir die Stärken der Experten, Key-User, Pioniere, Wissensinseln und die Stärken aller Mitarbeiter anerkennen und wertschätzen. Und rundherum einen Rahmen schaffen, der jeden motiviert mit den anderen im Sinne des Projekt- und Unternehmensziels in Kontakt und in Vernetzung zu gehen. Dann entsteht auch dass, was ich unter Agilität verstehe: Als Gemeinschaft von Einzelnen mit Mut und Vertrauen durch die Unsicherheit in Richtung Vision navigieren.
Anstrengung und Mindset
Klingt super? Ist es auch. Aber es ist auch unendlich anstrengend. Wir kennen das nicht. Sitzkreis und Harte-Hand sind uns vertraut. Wer sich schon mal mit Modellen wie Spiral Dynamics auseinandergesetzt hat, erkennt, dass hier ein neuer Geist gefragt ist, ein integraleres Denken und Handeln der Organisation, der Teams und jedes Einzelnen. Und der Weg dahin ist nicht mit einem Nebenbei-Change-Projekt von 6 Monaten getan. Da braucht es mehr. Auf allen Ebenen. Bei jedem. Meiner Meinung nach haben wir aber gar keine andere Chance, wenn wir die Herausforderungen, denen wir heute gegenüberstehen, lösen wollen. In diesem Sinne: Vernetzen Sie Ihre Leuchttürme!
Ihr Richard Seidl