Diese Entwicklung geschieht so nicht zum ersten Mal. Auch in den frühen Tagen der Entdeckung von Röntgenstrahlen (1895) beziehungsweise der Radioaktivität (1896) gab es eine große Euphorie und viele skurrile Anwendungen: Radiumhaltige Lebens- und Heilmittel wurden als wahre Wundermittel beworben. Gärtner experimentierten mit radioaktiven Düngemitteln in der Hoffnung auf ein beschleunigtes Pflanzenwachstum. Radioaktive Substanzen wie Thorium fanden in Kosmetikprodukten Anwendung, mit dem Versprechen von Hautaufhellung und Faltenreduzierung. In den 1920er Jahren verwenden Schuhgeschäfte Röntgenstrahlen, um die Füße der Kunden zu vermessen. Die Begründung dafür war, dass so gesundheitliche Langzeitschäden durch falsche Schuhe vermieden werden.
"Massenhafte Begeisterung kann dazu führen, dass Technologien unüberlegt eingesetzt werden"
Dies verdeutlicht, wie experimentierfreudig und euphorisch die Anwendung von neuen Technologien in ihren Anfangsjahren ist, bevor wir ein besseres Verständnis für die Chancen, Risiken und Innovationspotenziale einer neuen Technologie entwickelt haben. Heute lachen wir über die Naivität und die Technikgläubigkeit dieser Zeit.
Es gibt hier aber einen interessanten Bezug zu den aktuellen Entwicklungen in der Künstlichen Intelligenz. Beide Entwicklungen verdeutlichen, wie die massenhafte Begeisterung dazu führen kann, dass Technologien unüberlegt und voreilig in der Breite eingesetzt werden. Natürlich sind Röntgenstrahlen eine sehr nützliche Technologie und es gibt sogar wissenschaftliche Beweise für die positive gesundheitliche Wirksamkeit von Radium oder Thorium. Nur machen diese positiven Auswirkungen gar keinen Sinn, wenn der Patient im Anschluss verstirbt. Ähnlich ist es in der AI. Natürlich entstehen auch hier neue Wege erst dadurch, dass man sie geht. Experimentierfreude und Begeisterung sind Voraussetzungen für jede Art von Fortschritt. Trotzdem hilft, bei allem Optimismus, manchmal auch etwas intensiveres Nachdenken.
Das Wall Street Journal berichtet, dass es für die IT-Hersteller sehr schwierig ist, die enormen Kosten der AI-Systeme in Profit umzuwandeln. So kostet Microsofts GitHub Copilot dem Unternehmen mehr Geld, als er aktuell einbringt. So macht Microsoft im Monat etwa 20 US-Dollar pro Abo und User Verlust. Im schlimmsten Fall sind es sogar 80 US-Dollar im Monat pro Nutzer. Dabei ist Microsoft mit seiner Cloud-Sparte gleichzeitig einer der größten Profiteure des AI-Booms. Nach Schätzungen gehen ganz am Ende etwa 80 Prozent der weltweiten AI-Investitionen in die Taschen der Hardware- und Cloud-Provider. Ein sehr gutes Geschäft.
"Es ist sehr schwierig, die enormen Kosten der AI-Systeme in Profit umzuwandeln"
Frei nach Paul Watzlawick "Wer als Werkzeug nur einen Hammer kennt, sieht in jedem Problem einen Nagel" werden AI-Systeme in Unternehmen inzwischen auch für Aufgaben eingesetzt, für die es nachweislich billigere und auch deutlich bessere Lösungen gibt. Allein der Glaube an die Überlegenheit der AI öffnet scheinbar die Taschen aller Budgetverantwortlichen. So sagt Gartner auch voraus, dass sich bis 2025 der Einsatz von generativer AI in Unternehmen wieder um 90 Prozent verringern wird, da die laufenden Kosten den generierten Wert oftmals deutlich übersteigen.
Wir müssen die Chancen der Künstlichen Intelligenz nutzen, mögliche Risiken beherrschen und so die Innovation vorantreiben. Alte Tugenden werden nach dem Hype in den Unternehmen wieder die Oberhand gewinnen. Beispielsweise das KISS-Prinzip für "Keep it Simple and Stupid", welches fordert, zu einem Problem eine möglichst einfache und kostengünstige Lösung anzustreben. Denn, auch wenn falsch sitzende Schuhe heute noch ein Problem sein könnten, haben wir alle gelernt, dass ein Röntgenbild kein so guter Ansatz zur Erhöhung der globalen Fuß-Gesundheit ist. So KISS your AI – before you buy!