Ach, früher war doch alles viel einfacher. Da gab es nur null oder eins. Man wählte Rot oder Schwarz. Schaute im linearen Fernsehen Roseanne oder Lindenstraße. War Fan von Star Wars oder Star Trek. War Frau oder Mann. Glaubte Wissenschaft oder Kirche. Nutzte Microsoft Works oder Microsoft Office. Das war unsere gelebte Wahrheit.
Nun, die Welt hat sich ganz schön verändert. Die Optionen sind unüberschaubar geworden. Jeder kann und darf heute seine ganz eigene Individualität ausleben. Lässt sich die Parteienlandschaft farblich noch unterscheiden, sieht es mit den Wahlprogrammen schon schwieriger aus. Hunderte TV-Kanäle versuchen, sich gegen Streaming-Plattformen zu behaupten, bei denen ich auf Abruf jetzt sofort alles sehen kann. Hunderte, Tausende Serien laufen parallel. Unser Geschlecht und unsere Partnerwahl bietet eine Fülle an Optionen, ebenso Glaubensrichtungen, Meinungen und Spiritualität. Der Betriebssystem- und Software-Markt ist ein riesiges Buffet und Hugging Face bietet per Stand heute Zugriff auf 325.901 KI-Modelle.
Wir sind heute in der Lage, in jedem Lebensbereich ganz granular zu entscheiden, wer wir sind und was wir womit oder mit wem tun. Das ist eine große Errungenschaft unserer Gesellschaft, da jeder, frei nach Friedrich II., "nach seiner Façon glücklich werden muss". Aber das bringt auch Herausforderungen mit sich, die wir uns im Alltag immer wieder bewusst machen müssen.
Herausforderung 1: Präsenz
Durch die sozialen Medien gibt es Plattformen, in der jede Meinung einen Platz findet und gehört wird. Das war früher nicht so. Da stand in der Zeitung, was Journalisten und Redakteure reinschrieben. Ebenso im Radio und im TV. Und heute kann jeder seine Meinung und seine Individualität auf Youtube, TikTok, Instragram, LinkedIn und Co. zur Schau stellen. Aber was wir da in welcher Menge in unsere Feeds gespült bekommen, entspricht nicht der gesellschaftlichen Verteilung. Zu viele Filter hängen da drüber: Content-Creatoren, Algorithmen der Plattformen mit Keywords und Profiling, Filterblasen, in den wir uns bewegen, Bestätigungs-Bias, und und und.
Zudem steckt da auch eine sich selbst befeuernde Schleife drin. Wenn jeder seine Meinung raushauen kann, ist immer irgendwer "pissed" und wird sich dementsprechend wehren und wiederum dagegen argumentieren. Und hier wird's leider oft unschön, denn unsere Diskursund Konfliktfähigkeit ist … na ja … bescheiden …
Herausforderung 2: Entscheidung
Ein weiterer Punkt bei all den Möglichkeiten und Optionen ist: Welche will ich denn eigentlich? Haben früher Staat, Kirche und Medien für uns gedacht und entschieden, was gut ist, müssen wir uns heute selbst Gedanken dazu machen. Das kostet unserem Hirn viel Energie und es stresst uns: Was ist, wenn ich die falsche Wahl treffe? Was denkt mein Umfeld? Ist das wirklich "meins"? Ja, durch die vielen Optionen gibt es oft kein richtig und falsch, alles hat seine Vor- und Nachteile, seine guten und schlechten Konsequenzen.
In agilen Projekten wird oft das Loblied auf „Selbstverantwortung“ und "Selbstorganisation" gesungen. Wir vergessen dabei aber, was das für ein Kraftakt für uns Menschen oft ist. Es ist eben kein Selbstläufer. Das muss gelernt werden und immer wieder Energie bekommen.
Und nun?
Zwei Gedanken zum Abschluss, die ich mir selbst immer wieder sage:
- Kritisch sein gegenüber dem, was wir hören, lesen und sehen. Aber nicht im Bashing-Modus, sondern mit Toleranz und Wertschätzung.
- Sich für etwas zu entscheiden, ist meist nicht endgültig. Andere Türen bewusst zu schließen, gibt viel Energie frei.
Denn eines ist klar: Wer sich alle Türen offen hält, steht immer am Flur.