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IT-Nothilfepakt auf Augenhöhe – Anwender helfen sich im IT-Notfall gegenseitig

Oliver Retz, CIO der Jung Unternehmensgruppe, hat etwas ganz Einfaches und dabei etwas ganz Besonderes gemacht. Gemeinsam mit drei anderen Unternehmen aus der Region hat er einen IT-Notfallpakt gegründet, dem inzwischen 12 Unternehmen angehören. In dem Pakt sagen sich die Unternehmen gegenseitig unbürokratische Hilfe zu, wenn es darum geht, die IT nach einem Notfall, zum Beispiel nach einem Cyberangriff, wieder ans Laufen zu bringen. Der Pakt kommt ohne Verpflichtung, ohne Kosten und ohne schriftlichen Vertrag aus. Wie diese „Nachbarschaftshilfe“ genau funktioniert, erzählt Oliver Retz im Gespräch mit JavaSPEK-TRUM.
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Christoph Witte

Chefredakteur IT Spektrum und BI-Spektrum

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Oliver Retz

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  • 23.09.2022
  • Lesezeit: 8 Minuten
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Herr Retz, erzählen Sie uns ganz kurz etwas zur Jung Unternehmensgruppe, die als Spezialistin im Bereich frische Lebensmittel tätig ist.
Oliver Retz: Das Thema frische Lebensmittel zieht sich durch alle Unternehmenseinheiten der Gruppe. Zum einen bauen wir selbst Salate und Gemüse in landwirtschaftlichen Betrieben an. In einem weiteren Betrieb, der Gartenfrisch Jung, produzieren wir verpackten Salat für den Lebensmitteleinzelhandel, die dieser dann unter seinem jeweiligen Label verkauft. Außerdem betreiben wir mit der GFT Logistic ein Logistikunternehmen, das darauf spezialisiert ist, Lebensmittel zu lagern, zu kommissionieren und sehr schnell über „Kühlketten“ sicher an die Kunden zu bringen.


Bei all diesen Aktivitäten rund um Lebensmittelherstellung und Transport spielt Zeit eine entscheidende Rolle. Welche Rolle spielt da die IT im Unternehmen?
Sie muss vor allem für ein einwandfreies Funktionieren der Supply-Chain sorgen. Die IT ist auf der einen Seite der Garant dafür, dass die kurzen Lieferzeiten eingehalten werden können, und auf der anderen Seite stellt sie sicher, dass wir bei jedem Salat hundertprozentig sagen können, welchen Weg er vom Feld bis in ein bestimmtes Supermarktkühlfach zurückgelegt hat. Im Lebensmittelbereich spielt die Sicherheit im Sinne von Chargenrückverfolgbarkeit und Schnelligkeit eine sehr wichtige Rolle.

Was hat Sie bei dem Job bei Jung gereizt?
Bevor ich ins Unternehmen kam, war ich sehr lange auf der IT-Dienstleisterseite und hatte durch den Einblick in verschiedenste Branchen gedacht, ich kenne das Thema Geschwindigkeit in einem Unternehmen. Aber bei Jung habe ich diesen Begriff und die Abhängigkeiten dahinter neu gelernt. Eine IT zu betreuen und weiterzuentwickeln, die sich gleichermaßen den Themen Geschwindigkeit und Sicherheit in der Supply-Chain verschrieben hat, hat mich 2013 bei meinem Einstieg bei Jung enorm gereizt und das ist bis heute, fast zehn Jahre später, auch so geblieben.

Sie haben die Idee gehabt, dass sich Unternehmen im IT-Notfall gegenseitig helfen, eine Art IT-Nachbarschaftshilfe. Was hat es mit diesem Notfallpakt genauer auf sich?
In unserer Region treffen sich die IT-Chefs einiger Unternehmen regelmäßig zum vertraulichen Austausch. Bei einem solchen Treffen vor knapp zwei Jahren berichtete ein CIO sehr offen und sehr detailliert über einen Cyber-Angriff, den dieses befreundete Unternehmen erleiden musste. Ich war sehr beeindruckt vom Mut und der Offenheit dieses Berichts, in dem auch die Wiederaufbauarbeiten eindrucksvoll beschrieben wurden. Eine Erkenntnis war: Man braucht wirklich viele helfende Hände, um die IT schnell wieder ans Laufen zu bringen.

Und welche Konsequenz haben Sie aus dieser Erkenntnis gezogen?
So viele IT affine Mitarbeitende, die im Zweifelsfall wissen, was sie mit einem Router oder einem infizierten PC machen müssen, hat kaum ein Unternehmen. Also geht es nicht ohne Hilfe von außen. Die kriegt man aber oft nicht schnell genug und teuer sind diese Kräfte sowieso. Ich habe mir also lange Gedanken darüber gemacht, wie man möglichst schnell viele helfende Hände vor Ort bringt, ohne dass es ein Unternehmen ruiniert. Die Idee, dass sich Unternehmen am besten gegenseitig helfen, war schnell geboren.

Es hat allerdings etwas länger gedauert, bis ich mich getraut habe, andere Unternehmen darauf anzusprechen. Erst als im Gespräch mit einem anderen CIO, der den gleichen Bericht gehört hat, klar wurde, dass nicht nur ich darüber nachgedacht habe, wie man so eine gegenseitige Hilfe organisieren kann, kamen wir zügig weiter. Wir haben dann noch einen dritten CIO dazu geholt und schnell festgestellt, dass wir ein ähnliches Verständnis von so einer „Notfallhilfe“ haben. Wir haben dann nur noch drei Sessions gebraucht, bis wir die Eckpunkte eines, wie wir es genannt haben, Nothilfepaktes, formuliert hatten. Mit dieser Grundidee haben wir inzwischen auch andere Unternehmen in der Region bekannt gemacht und sind da auf sehr positive Resonanz gestoßen.


Was sind das für Eckwert oder Eckpunkte?
In unserem Szenario gehen wir davon aus, dass die Unternehmen so schwer getroffen sind, dass es keine vertrauenswürdige IT mehr gibt, also dass jeder Rechner, jeder Switch usw. angefasst werden muss, bevor man ihn wieder einsetzen kann. Die eigene IT ist in solchen Fällen aber in der Regel damit voll gefordert, den Rechenzentrumsbetrieb und die Enterprise-IT wieder einsatzfähig zu machen. Sich auch noch mit „Turnschuhaufgaben“, also dem Bereinigen und Wiederherstellen der vielen Clients und Endgeräte zu befassen, würde die eigene IT absolut überfordern. Dazu braucht es zwar auch IT-Kenntnisse, aber kein Domänenwissen, das können außenstehende Helfer machen, wenn sie zum Beispiel von jemandem begleitet werden, der ihnen zeigt, wo die Endgeräte, Switches oder Maschinen stehen, die zurückgesetzt werden müssen. Die Unternehmen, die sich dem Nothilfepakt angeschlossen haben, schicken dem betroffenen Unternehmen im Rahmen ihrer Möglichkeiten Leute. Die tun dann Dinge, die die Kernmannschaft des betroffenen Unternehmens von der eben genannten „Turnschuharbeit“ entlasten.

Abb. 1

Dieser Pakt ist ein Abkommen unter Gleichgesinnten und er ist absolut freiwillig. Wie viele Leute werden denn im Notfall geschickt?
Ganz wichtig ist mir, dass der Nothilfepakt kein Ersatz ist für eigene Notfallpläne und eigene Absicherungen. Dafür bleibt jedes Unternehmen selbst verantwortlich. Dieser Pakt ist das, was er sagt: Nothilfe. Dabei sind drei Punkte wesentlich. 1. Wir versprechen uns gegenseitige Hilfe im Notfall, es gibt aber kein Vertragswerk. Der Handschlag reicht. 2. Es gibt keine Verpflichtung. Wenn ich um Hilfe gebeten werde, kann aber gerade keinen Mitarbeitenden entbehren, dann brauche ich auch niemanden zu schicken. 3. Wir wollen keine Bürokratie. Beispielsweise leistet für die entsendeten Leute das entsendende Unternehmen den Ausgleich bei sich intern. Oder es geht der Entsendende davon aus, dass er fünf Tage auf seine Leute verzichten muss, um in dieser Zeit möglichst auf organisatorische Aufgaben und Abstimmungen zu verzichten.

Abb. 2

Der Notfallpakt basiert auf Gegenseitigkeit, es gibt keinen Vertrag, keine Verpflichtung, keine Bürokratie und kein Geld. Was sagen Ihre Chefs zu diesem Solidaritätsbeitrag, Herr Retz?
Bei jedem beteiligten Unternehmen erleben wir eine unheimlich breite Zustimmung auf Vorstands- und Geschäftsführungsebene.


Und keine Hausjuristen, die bei solchen Handschlagabkommen größte Bedenken haben?
Nein, eigentlich nicht. Natürlich kamen Fragen zum Beispiel nach der Haftung auf. Aber das zentrale Argument für diese Vorgehensweise ist ja die gegenseitige, schnelle und unbürokratische Hilfe im Notfall. Wenn ich als IT-Verantwortlicher zusätzliche Fachleute wegschicke, wenn es um das Überleben der Firma geht, wird mein Chef nicht glücklich sein, wenn diese Leute kein Non-Disclosure Agreement oder keinen Haftungsausschluss unterschrieben haben.


Es gibt also keine Vereinbarung über die gegenseitige Zusicherung von Hilfe hinaus?
Es gibt ein Abwerbeverbot. Aber auch das ist nicht schriftlich niedergelegt, sondern nur mündlich zwischen den Firmen vereinbart. Es ist ein absolutes No-Go Mitarbeitende eines anderen Unternehmens „anzugraben“, die mir gerade in einem Notfall zur Verfügung gestellt worden sind. Das versteht sich aber eigentlich auch von selbst.


Wie viele Unternehmen machen bei dem Pakt mit?
Aktiv organisiert sind zurzeit fünf Unternehmen, mit einem sechsten sind wir gerade im Onboarding. Dazu kommen weitere sechs Unternehmen, die eher „lose“ mitmachen.


Wie viele Unternehmen verträgt denn eine solche „Selbsthilfezelle“? Wenn diese Zellen zu groß werden, entsteht automatisch Bürokratie, die Sie ja unbedingt vermeiden möchten.
Wir haben uns eine Struktur überlegt, die zwischen „close“ und „regional“ Supporter unterscheidet. Close Supporter sind höchstens drei Unternehmen, die sich gegenseitig eng unterstützen. In jedem dieser Close Supporter sind dann jeweils drei Mitarbeitende fest benannt, von denen mindestens einer im Notfall mit den weiteren „variablen“ entsendet wird. Diese Mitarbeitenden tauschen sich auch im Alltag unternehmensübergreifend aus, sodass sie im Ernstfall schon ein bisschen etwas über das jeweils andere Unternehmen wissen. Aber auch dieses sich gegenseitige Kennenlernen ist freiwillig und reicht nur so weit, wie die beteiligten Unternehmen das miteinander vereinbaren. Die regional Supporter schicken nur im Notfall Leute und pflegen ansonsten keinen regelmäßigen Austausch. Alle beteiligten Unternehmen sind nicht weiter als eine dreiviertel Stunde Autofahrt voneinander entfernt. So können auch weitere regionale Supportgruppen entstehen.


Hatten Sie bereits einen Notfall?
Bisher Gott sei Dank noch nicht.


Gibt es Pläne, diesen Nothilfepakt-Gedanken weiter auszubauen?
Wir bemerken jetzt schon, dass wir unsere Notfallpläne so formulieren, dass sie auch von IT-Leuten außerhalb des Unternehmens verstanden werden. Das hat mit dem Erfahrungsaustausch zu tun, den die beteiligten Unternehmen untereinander betreiben. Diesen Erfahrungsaustausch möchten wir weiter ausbauen. Außerdem möchten wir gern die Idee weiterverbreiten. Wir wollen dabei nicht, dass andere Verbünde das genauso machen wie wir, aber wir würden gern Rat geben und erzählen, wie wir das machen. Der Open-Source-Ansatz gefällt mir da sehr gut als Vergleich. Für die weitere Verbreitung suchen wir noch nach einer geeigneten Struktur.

Das Interview führte Christoph Witte, E-Mail: cwitte@wittcomm.de, Fotos: © 2021 Matt Stark http://www.mattstark.de

Oliver Retz leitet die Konzern-IT der Jung Unternehmensgruppe mit Sitz in Jagsthausen bei Heilbronn in Baden-Württemberg

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Christoph Witte

Chefredakteur IT Spektrum und BI-Spektrum
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Christoph Witte ist Gründer der Wittcomm Agentur für IT, Publishing und Kommunikation. Darüber hinaus ist er Chefredakteur von IT Spektrum sowie BI-Spektrum und wirkt zudem bei dem Magazin JavaSPEKTRUM mit.

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Oliver Retz

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Oliver Retz leitet die Konzern-IT der Jung Unternehmensgruppe mit Sitz in Jagsthausen bei Heilbronn in Baden- Württemberg.

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