Nichts geht Menschen näher als die eigene Gesundheit. Sie ist ein hohes Gut, im Fall der Fälle sollen wirklich alle Instrumente genutzt werden, um die eigene Gesundheit zu erhalten. Die Idee, ein Computerprogramm einzusetzen, um eine objektive Diagnose und eine optimale Behandlung zu gewährleisten, ist daher eine durchaus verlockende Vision. Man füttert ein solches System mit einer Vielzahl von Daten, Bildern und den neusten Forschungsergebnissen und die KI bestimmt daraus die optimale Behandlung, genau angepasst auf den jeweiligen Patienten. Klingt gut, nicht? Geschätzt sind heute ein Drittel aller weltweit erhobenen Daten Gesundheitsdaten: Blutwerte, Röntgenaufnahmen, Fitnessdaten, medizinische Veröffentlichungen, DNA usw. Man könnte meinen, die Medizin ist gemacht für die Auswertung mit KI-Algorithmen: „Es ist ziemlich offensichtlich, dass wir endlich aufhören sollten, Radiologen auszubilden“, folgerte daher 2016 Geoffrey Hinton, einer der Deep-Learning-Experten.
Im Jahr 2022 werden Radiologen weiterhin ausgebildet. Und die mit ambitionierten Zielen, vollmundigen Versprechen und großem Marketing 2015 ins Leben gerufene IBM Watson Health Division wurde im Juli von IBM verkauft. Die medizinische Revolution blieb bislang aus, die Marketingblase ist ohne greifbare Ergebnisse endgültig geplatzt. IBM Watson blieb, trotz milliardenschwerer Investitionen, wirtschaftlich hinter den Erwartungen zurück und schrieb bis zuletzt hohe Verluste. Die teure Watson-Wette von IBM Ex-CEO Ginni Rometty ist nicht aufgegangen. Rometty wurde inzwischen durch Arvind Krishna ersetzt, der nun IBM wieder auf Cloud- und Enterprise-Computing fokussieren will. Das grandiose Scheitern von IBM auf dem Gebiet der Medizin hatte eine Vielzahl von Gründen: falsche Technologieentscheidungen, hohe Kosten, schlecht ausgebildete Mitarbeiter, zu große Versprechen und hohe Erwartungen. Die Katastrophe ist daher ganz sicher nicht monokausal. Der Schluss, dass KI in der Medizin nicht funktioniert, wäre aber vorschnell gezogen. Schließlich startete die KI-Revolution in der Medizin mit dem bereits in den 70er-Jahren an der Stanford University entwickelten und sehr erfolgreichen medizinischen Expertensystem Mycin.
Eine Vielzahl von Unternehmen und vor allem Start-ups engagieren sich heute im Bereich der Medizin und dem Bereich Lifesciences. Wie wichtig KI beispielsweise bei der Bewältigung der Corona-Pandemie war, habe ich schon an anderer Stelle dieser Kolumne dargelegt. Die Unternehmen konzentrieren sich aber auf einzelne Aspekte von der Diagnose von Röntgenbildern, über die Therapieauswahl bei Magenkrankheiten, der Entwicklung neuer Medikamente bis hin zur Abrechnung von medizinischen Leistungen. Dabei setzten sie, anders als IBM mit Watson, zumeist auf die Kombination von unterschiedlichen KI-Technologien. Der praktische Einsatz dieser Systeme wird aber oftmals durch falsch verstandenen Datenschutz oder organisatorische Hemmnisse gebremst. Vielversprechend ist derzeit die Kombination mit den Herstellern medizinischer Geräte, die entsprechende KI-Verfahren nun direkt in ihre neuen Gerätegenerationen integrieren. 40 Prozent der deutschen Bevölkerung glauben laut dem IT-Verband BITKOM, dass die KI in Zukunft Ärzte bei Routineaufgaben unterstützen wird. Mittelfristig, da bin ich mir sehr sicher, wird die KI die Medizin stärker revolutionieren als die Entdeckung von Antibiotika. Sie wird aber am Ende den Arzt nicht ersetzen können. Einen „Doktor Computer“ wird es so schnell wohl nicht geben. Schließlich gibt es selbst auf dem Raumschiff Enterprise immer noch einen Arzt.