Viele Softwareingenieure meiden jedoch die Auseinandersetzung mit diesen Normen, besonders in agilen Projekten, da sie diese als hinderlich empfinden. Dabei stellt die Normenreihe eine wertvolle Orientierungshilfe dar und trägt insbesondere in regulierten Branchen oder bei großen Projekten dazu bei, Qualität, Transparenz und Effizienz sicherzustellen.
Ein tieferer Einblick in die aktualisierte Ausgabe
Die zweite, erweiterte Auflage des Buches „ISO 29119 – Die Softwaretest-Normen verstehen und anwenden“ von Matthias Daigl und Rolf Glunz beleuchtet die Normenreihe ISO/IEC/IEEE 29119 und ihre Änderungen seit 2016. Das Buch ist in vier Teile gegliedert:

Teil 1: Grundlagen und Entstehung der Normen
Zu Beginn beschreiben die Autoren die Entstehungsgeschichte der ISO 29119 und ihre Verbindung zu den ISTQB-Lehrplänen. Diese Informationen bieten sowohl lehrreiche als auch hilfreiche Einblicke für das allgemeine Verständnis der Normenanwendung.
Teil 2: Details der Normenreihe
Der zweite Teil befasst sich mit den Details der Normenreihe:
- ISO 29119-1:2022: Ein wesentlicher Bestandteil der Norm sind über 130 Begriffsdefinitionen, deren Entstehung und Unterschiede zu ISTQB-Definitionen erläutert werden. Das Buch behandelt grundlegende Konzepte wie das Verhältnis von Testen zu Qualitätsmanagement, Verifikation, Validierung sowie statisches und dynamisches Testen. Für Testmanager sind auch die strukturierten Testkonzepte und -strategien interessant, einschließlich Testansätzen, Anforderungen an Testprozesse, sowie Details zu Testentwurf, -durchführung, Organisation und Berichtswesen.
- ISO 29119-2:2021: „Prozesse sind die Spielregeln des Miteinanders im Softwaretest“ – so formulieren es die Autoren in ihrem Buch und erläutern in diesem Kapitel das hierarchische Modell und die Struktur der Prozesse. Sie behandeln 33 Teilprozesse und Aktivitäten für Testprozesse auf Organisationsebene, Testmanagement und dynamisches Testen sowie spezifische Rollen. Die Prozesse bleiben generisch, um auf verschiedene Entwicklungsprozesse und Kontexte anwendbar zu sein.
- ISO 29119-3:2021: Dieser Teil der Norm bietet umfassende Hilfe zur Dokumentation. Obwohl das Thema Dokumentation für viele Softwareingenieure und damit auch für Testingenieure eine Art rotes Tuch zu sein scheint, stimme ich den Autoren zu, dass „... das Thema Dokumente für viele zugänglicher ist als beispielsweise Prozesse“. Das Kapitel stellt die Normdokumente wie Testrichtlinie, Testkonzept, Testspezifikation, Testberichte und -ergebnisse vor und zeigt deren Zusammenhang mit den Prozessen.
- ISO 29119-4:2021: Testverfahren sind Verfahren zur Erstellung oder Auswahl eines Testmodells, zur Identifizierung von Testüberdeckungselementen und zur Ableitung der entsprechenden Testfälle (nach SE-VOCAB). Bemerkenswert ist, dass der seit Langem etablierte Begriff der Testbedingung, wie wir ihn aus den Definitionen des ISTQB kennen, in der Neufassung des Standards gestrichen und – nicht gleichbedeutend, aber doch – durch das Konzept des Testmodells ersetzt wurde. Für spezifikations-, struktur- und erfahrungsbasierte Testverfahren bietet die Norm Anleitungen zur Zuordnung geeigneter Testmodelle, Vorschläge für Testüberdeckungselemente und Erläuterungen zur Ableitung von Testfällen. Das Buch gibt einen kompakten Überblick über zwanzig Testverfahren und erklärt die einheitliche Messung der Testüberdeckung.
- ISO 29119-5:2016: Das Buch erklärt den neuen Standard für Keyword-Driven Testing. Die Norm stellt das Konzept vor, liefert einen Implementierungsansatz und definiert Anforderungen an Frameworks und Werkzeuge. Standards für Datenaustausch und Schnittstellen ermöglichen Werkzeug-Interoperabilität. Außerdem werden einfache und zusammengesetzte Schlüsselwörter definiert und eine Anleitung zu deren Verwendung gegeben. Der Standard richtet sich an Entwickler von Frameworks und Testautomatisierungswerkzeugen. Trotz bisher geringem Interesse an standardisiertem Datenaustausch könnte die Konformität einen Wettbewerbsvorteil bieten. Hinweis: Im Dezember 2024 erschien eine neue Version des Standards ISO/IEC/IEEE 29119-5:2024.
- ISO 29119-Technical Reports: Abschließend erläutern die Autoren die Technical Reports der Normenreihe: ISO/IEC TR 29119-6:2021 für Testing in agilen Umgebungen, ISO/IEC TR 29119-11:2020 für KI-basierte Systeme und ISO/IEC TR 29119-13:2022 für biometrische Systeme. Der Report für agile Umgebungen unterstützt die Integration agiler Praktiken mit den Normen 29229 Teil 1 bis 4, ohne ein spezifisches Vorgehensmodell zu standardisieren. Die Normen für KI- und biometrische Systeme zielen darauf ab, Risiken unzuverlässiger oder missbräuchlicher Nutzung zu reduzieren.
Teil 3: Praxisbeispiele und Kritikpunkte
Der dritte Teil des Buchs enthält detaillierte Praxisbeispiele für die Anwendung der Normenreihe. Auf 70 Seiten werden für vier Beispielprojekte exemplarische Prozessbeschreibungen, Aktivitäten und Aufgaben, Rollen sowie Dokumentenbeschreibungen zur Verfügung gestellt. In einem weiteren Kapitel gehen die Autoren auf häufig geäußerte Kritikpunkte am Standard ein und nehmen dazu Stellung. Im Anhang findet sich eine FAQ-Liste mit Antworten auf eine Reihe spannender Fragen.
Schlussfolgerungen und Empfehlungen für Testmanager
Das Buch dient als wertvoller Leitfaden für Projekt-, Qualitäts- und Testmanager, um Testprozesse zu gestalten und zu optimieren. Es ersetzt die Norm nicht, sondern erklärt sie und hilft ISTQB-zertifizierten Testern, die Inhalte zu verstehen, auch wenn es Unterschiede zu den ISTQB-Definitionen gibt.
Ich empfehle dieses Buch jedem Test- oder Qualitätsmanager. Es unterstützte mich in der Praxis dabei, Testprozesse auf Organisations- und Projektebene zu gestalten und „normativ“ zu argumentieren. Der umfangreiche Abschnitt mit Projektbeispielen erweist sich als besonders hilfreich, und bei Diskussionen über die Sinnhaftigkeit von Normen im Testbereich bieten die genannten Kapitel wertvolle Argumentationsgrundlagen.