Johannes Mainusch: Hallo Petra, seit wir vor über 10 Jahren bei XING zusammenarbeiteten, bist du Product Leadership Coach geworden.
Petra Wille: Das stimmt, das ist der aktuelle Titel, den ich führe.
Okay, was bedeutet das?
Ich arbeite seit zwei Jahren sowohl im Einzelcoaching als auch in Gruppen-Setups für Führungskräfte im Produktbereich. Die fünf Jahre davor habe ich Produktmanager gecoacht. Dabei merkte ich, dass ich immer wieder die gleichen einfachen Themen im Produktmanagement erkläre. Ich fragte mich, warum das nicht innerhalb der Firma in Communities of Practice oder in den wöchentlichen Treffen mit den Führungskräften geschieht. Dem Thema bin ich dann nachgegangen und habe gemerkt, dass auch den Führungskräften häufig das Handwerkszeug fehlt. Oft sind die auch mit ganz anderen Hintergründen in ihre Position gekommen, aus einer Businessrolle, aus einer Marketingrolle, vielleicht auch aus der Technik, und haben dann Produktmanagement immer nur aus einer verkürzten Sicht gesehen. So entstand die Idee, das gesammelte Handwerkzeug von fünf Jahren Coaching als Buch für Führungskräfte im Produktmanagement zusammenzuführen. Das Buch habe ich unter dem Titel „STRONG Product People” letztes Jahr veröffentlicht. Ein Handbuch für Product-Leaders.
„Ein Produktmanager ist jemand, der mit einem Team zusammen die Risiken der Softwareentwicklung in Balance bringt”
Was ist ein Produktmanager?
Das kann man googeln, da finden sich sehr viele unterschiedliche Definitionen. Meine Definition ist immer: Es ist jemand, der mit einem Team zusammen die vier großen Risiken der Softwareentwicklung in Balance bringt. Die Risiken, die da wären:
- Value: Stiftet das Produkt für einen Kunden einen Wert?
- Usability: Können die Nutzer das Produkt einfach verwenden, ohne dass wir ein Handbuch dazu ausliefern?
- Feasibility: Können wir das Produkt überhaupt mit dem Team und seinen Kompetenzen in einer wirtschaftlichen Zeitspanne bauen?
- Viability: Verdienen wir mit dem Produkt Geld, ist es ethisch und moralisch geboten, das zu tun, sind wir legal und compliant?
Eine gute Produktmanagerin bringt diese vier Risiken in Einklang und sucht nach Lösungen.
„Die Werthaltigkeit für den Nutzer zuerst denken”
Die meisten Leute kennen Produktmanager als eine der Führungsrollen in einem Scrum-Team. Gibt es viele Firmen, für die diese Rolle noch ungewohnt ist?
Ich helfe eher Firmen, die in der Reise schon ziemlich weit sind, sonst landen die gar nicht auf meiner Webseite. Dabei sind auch viele klassische Unternehmen, aus der Pharma, Healthcare, Logistik, oder aus der Schifffahrt. Die begreifen Produktmanagement als eine Schlüsselrolle in der Digitalisierung. Und sie begreifen, es ist ein langer Weg, in der Regel eine mehrjährige Reise.
Bauen die das dann immer in Kombination mit agilen Teams auf, also bottom-up, oder gibt es auch Unternehmen, die das ganz strategisch top-down machen?
Wenige! Ich kenne nur zwei Unternehmen aus meinen letzten 7 bis 8 Jahren, die von ganz oben anfingen zu erklären, was ist eigentlich diese Produktdenke. Die Werthaltigkeit für den Nutzer zuerst zu denken. Die meisten meiner Kunden begannen mit dem agilen grassroot movement, also mit einzelnen agilen Teams. Wenn ich ins Spiel komme, haben die oft schon die Grundlagen der Agilität verstanden, die Teams sind crossfunktional organisiert und es gibt die Rolle Product-Owner. Die ersten Meter sind die Unternehmen, die auf mich zukommen, also schon rausgeschwommen und dann merken sie, wir benötigen Hilfe.
Was sind deren Fragen, was schreibst du denen auf die Schwimmflügel?
Mit den Leuten gibt es nie ein Problem, die benötigen keine Schwimmhilfen. Das System darum herum, die Organisation, ist oft das Problem. Vor allem, wenn nicht erkannt wird, dass Training hilft. Manchmal werden Fachleute zu Product-Ownern (PO) und bekommen nicht einmal ein Basistraining, wie etwa den „Certified Scrum Product Owner” (CSPO). Diese zwei Tage sind ein guter Startpunkt, doch danach werden die POs oft allein auf ihrer Lernreise gelassen. Ich hielte es für richtig, den Leuten, zu sagen, dass nun eine jahrelange Lernreise folgen wird. Hier können Communities und Meetups helfen oder Konferenzen. Product-Owner ist eine Profession, das bedeutet, um Profi zu werden, dauert es Jahre. Dazu gibt es unglaublich viele Frameworks und Methoden, ich treffe sehr viele motivierte Produktmanager, die einfach nicht wissen, wo anfangen.
„Anfangs kamen die rein und faselten eine Stunde. Und ich merkte, ich verstehe nichts”
Nun haben Unternehmen ja oft sehr komplizierte Produkte. Wie wichtig ist es, dass ein Unternehmen einfach und ambiguitätsfrei erklärt, was es macht?
Das ist in der Tat eine Kompetenz, die gute Produktmanager mitbringen. Kürzlich war ich von einem Unternehmen der Schifffahrtslogistik beauftragt. Dort habe ich mir einfach monatelang von Produktmanagern erklären lassen, was die machen. Anfangs kamen die rein und faselten eine Stunde. Und ich merkte, ich verstehe nichts. Dann arbeitete ich sehr konkret mit denen daran, dass sie die Geschichte einfach mit einem Stift an ein Whiteboard malen können. So, dass alle denken, ah jetzt weiß ich, was ihr macht. Das ist eine Kompetenz, die man im Produktmanagement aufbaut. Das kann man trainieren und lernen. Sprache ist dabei ein essenzieller Bestandteil und viele Unternehmen lieben ihren Corporate-Sprech und ihre Abkürzungen. Das muss man den Leuten abgewöhnen und ihnen klarer machen, das Verständnis zwischen Menschen funktioniert durch natürliche Sprache – und nicht durch artifiziellen Business-Sprech. Einfach normale Geschichten, mit normalen Worten über normale Menschen und deren Probleme erzählen. Und wie wir sie mit Software oder Technologie besser lösen könnten, idealerweise sogar, wie wir damit die Welt zum Besseren verändern könnten. Je älter Unternehmen sind und je ernster sie sich nehmen, desto schwieriger und länger ist der Weg. Ich nenne das immer institutionalisiertes Ego. Ich glaube für erfolgreiche agile Teams, für erfolgreiche Kollaborationen zwischen verschiedenen Funktionen und auch für erfolgreiche Produktentwicklung müssen wir herunterkommen von unserem Business-Ross und wieder mehr auf die Menschen schauen. Wenn Unternehmen das gut gelingt, dann haben die in unserem Zeitalter einfach immensen Erfolg.
„Wichtig ist die kulturelle Dimension, die Frage, ob ein Produktmanager aus Europa gute Produkte für die Menschen in Südafrika bauen kann”
Kann man Produktmanagement auch machen, wenn nicht alle im Team dieselbe Muttersprache haben beziehungsweise die Sprache nicht perfekt sprechen?
Auf jeden Fall. Geschichten erzählen hat auch immer ganz viel mit Bildern zu tun, und die kann man natürlich über Sprache im Gehirn der anderen Person malen. Man kann aber auch einfach wirklich das Bild malen, oder mit Fotografie, mit Personas als Methode arbeiten. Man kann Kategorien über Farben abgrenzen und viele Teile der Kommunikation mehr ins visuelle verlagern. Ganz ohne gesprochenes Wort wird es natürlich nie gehen, aber mir fällt jetzt kein Umfeld ein, wo es mit mittelgutem Business-Englisch nicht geklappt hätte. Wichtig ist allerdings die kulturelle Dimension, die Frage etwa, ob ein Produktmanager aus Europa gute Produkte für die Menschen in Südafrika bauen kann.
Das geht jetzt wieder in Richtung einer der vier Säulen von vorhin, das UX …
Genau, und das Thema Viability, gerade was Wertigkeiten, Moral und Ethik betrifft. Die Annahme, dass einem selbst das Produkt gefallen muss, ist oft irreführend. Hier sind diverse Teams der erste Schritt, sich selbst bewusst zu werden: Ach krass, auch ich habe meine hunderttausend Vorurteile. Und krass, auch ich habe so meine Art, auf die Welt zu blicken. Erinnerst du dich, bei XING hatten wir sehr diverse Teams und wie viel Reibung das gab? Aber es macht auch einfach sehr viel Spaß und bringt einen ganz anderen Blickwinkel rein. Ich glaube, das hilft in der digitalen Produktentwicklung und steigert die Qualität.
Bei XING haben wir Englisch gesprochen, obwohl die meisten Leute eher schlecht darin waren. Kein Superenglisch, und trotzdem hat es als Lingua franca gut funktioniert.
Genau, weil alle auch Lust hatten, sich miteinander im Team auszutauschen und das gemeinsam hinzubekommen. Das ist auch wichtig, sonst klappt es nicht.
Wie kann man das in eine knalldeutsche Firma transportieren? Etwa in eine über hundert Jahre gewachsene Versicherung?
Also aus meiner Freiberufler-Leadership-Coach-Sicht muss ich dann Abstand davon nehmen. Ich sage dann immer, ich kann noch nicht helfen, weil der Weg noch so lang ist. Da müssen erst mal andere Leute ran, die Changemanagement-Kompetenzen haben. In großen Unternehmen gibt es transformation offices, die so einen Kulturwandel vorbereiten. Das sind dann oft jahrelange Prozesse, bevor mit Produktmanagement im Team angefangen werden kann.
Oft werde ich gefragt, ob es mein Buch auf Deutsch gibt, weil im Unternehmen gar kein Englisch gesprochen wird. Wenn mir gesagt wird, dass Leute im Unternehmen noch nicht mal so gut Englisch sprechen, um ein Buch zu lesen, dann habe ich immer eine Art Mitleid, denn denen bleibt viel Wissen verschlossen, gerade in unserer ganzen IT-Welt. Unternehmen, die sehr alte Führungskultur und Arbeitsweisen sowie wenig diverse Teams aushalten können, kann ich nicht helfen, da muss dann eher ein größerer Veränderungsprozess an anderer Stelle angestoßen werden.
„Unternehmen, die sehr alte Führungskultur und Arbeitsweisen sowie wenig diverse Teams aushalten können, kann ich nicht helfen”
Vielleicht ist es einfacher, wenn solche Unternehmen erst mal mit Softwareentwicklung in Englisch starten, das ist ja eine der Notwendigkeiten, die jetzt demografisch auf uns zukommen.
Viele kommen auch erst mal über externe Teams auf eine Art damit in Kontakt, dass die sich mal ein komplettes Team mieten. Das ist zwar nicht ideal, aber so etwas kann ein guter Anfang sein, um zu lernen, wie internationaler und diverser gearbeitet werden kann.
Wie wichtig sind Experimente im Produktmanagement?
Bei agilen Unternehmen, bei Start-ups, im Silicon Valley sind Unternehmen oft so unterwegs, wie es in den Produktmanagementbüchern beschrieben ist. Die verstehen agile und crossfunktionale Teams, Lean Management und Lean Production und diese ganzen Themen. A/B testen, Experimente, Design Sprints, das sind Themen, die haben diese Unternehmen mit der Muttermilch aufgesogen. Du hast vorhin eine über hundert Jahre gewachsene Versicherung angesprochen.
Die kann sehr weit davon entfernt sein, das so zu machen, weil sie oft noch die Struktur hat: Wer das beste Gehalt auf dem Konto hat, sagt an; Experimentieren bedeutet Fehler machen, das brauchen wir nicht. Hier braucht es diesen Kulturwandel, in dem wir lernen, wie Fehlerkultur und das Scheitern wieder okay ist im unternehmerischen Kontext. Solange Scheitern als Desaster wahrgenommen wird, kannst du nicht zu einer Experimentierkultur kommen. Experimentieren braucht die Erlaubnis zum Scheitern und zum daraus Lernen.
Wir haben in Deutschland halt sehr auf Effizienz getrimmte Unternehmen. Da ist oft wenig Reserve für Experimente …
Ich glaube, es wird noch einigen dieser Dinosaurier so gehen wie Nokia oder Kodak. Die dachten auch, mit unserer Marktstellung kann uns so schnell keiner was. Ich glaube, die Unternehmen machen sich oft nicht klar, dass es plötzlich schnell zu Ende sein kann, wenn man sich so langsam bewegt. Das geht schon damit los, dass man keine Leute mehr findet, die in verkrusteten, extrem hierarchischen Strukturen arbeiten wollen. Abgesehen von agiler Produktentwicklung und Produktmanagement, gibt es ja diese ganze New-Work-Branche, wo Leute auch anders zusammenarbeiten wollen. Ich glaube, die Unternehmen müssen sich einfach ein wenig strecken, es ist primär ein Kulturwandel.
Was meinst du mit Leadership in dem Begriff Product-Leadership-Coach?
Ich schaue auf die Führung von Produktmanagern mit den drei Themen Product/ Purpose, Prozess und People. Das erste Thema betrifft die strategische Steuerung eines Produktportfolios mit einem Horizont von bis zu drei Jahren. Damit das umsetzbar wird, benötigt ein erfolgreiches Unternehmen zweitens einen guten Prozess, der die Strategie mit der Umsetzung verzahnt. Und drittens das gesamte Personalthema. Was habe ich für Produktmanager, wie entwickeln wir die weiter, wen stellen wir ein, wie machen wir Onboarding, wer muss vielleicht auch wieder „outgeboardet” werden. Und dazu gehört auch, wie wir uns als Unternehmen verbessern und lernen, wie wir uns trainieren. Vor allem dieser people development-Teil kommt oft zu kurz.
Petra, was wünschst du dir für 2022 als Entwicklung im Produktmanagement?
Ich kuratiere einmal im Jahr mit Arne Kittler eine Konferenz in Hamburg, und beim Programm fragen wir uns, was wir mit unseren Produkten der Welt antun. Es ist mir ein ganz wichtiges Thema, mit beispielsweise Black-Mirror-Tests zu überlegen, was wir entwickeln. Auf unserer letzten Konferenz hatten wir die Leute als Sprecher, die den Copenhagen Catalog entwickelten.
„Wir müssen uns fragen, was wir mit unseren Produkten der Welt antun”
Was ist der Black-Mirror-Test und was ist der Copenhagen Catalog?
Beim Black-Mirror-Test überlegen wir uns wie in dieser Netflix-Dystopie, was schlimmstenfalls aus unseren Produktideen entstehen kann. Und der Copenhagen Catalog ist auf einer Konferenz in Kopenhagen vor ein paar Jahren entstanden. Dort wurden alle Teilnehmenden gefragt, welche Designprinzipien sie sich für digitale Produkte und eine digitale Welt von morgen wünschen. Daraus entstand der Copenhagen Catalog mit seinen 150 Prinzipien. Mein Wunsch für 2022 ist es, dass wir, wenn wir digitale Produkte erschaffen, uns unserer Verantwortung bewusst werden. Dass wir mehr Dinge machen, die die Welt benötigt. Nicht nur „user-centered“, sondern „life-centered“.
Vielen Dank für das Interview Petra!