Johannes Mainusch: Jutta, ich lernte dich kennen, kurz bevor du die Verantwortung für die OOP-Konferenz übernahmst. Wie lange machst du das jetzt schon?
Jutta Eckstein: Ich glaube, 2011 war ein großes Jubiläum, das müsste dann ja das 20-Jährige gewesen sein, weil wir dieses Jahr das 30-Jährige hatten. Genau, dann habe ich 2012 die Verantwortung für das inhaltliche Programm der OOP übernommen.
Nun hast du seit 2012 den Program Chair von einer der größten IT-Konferenzen in Deutschland inne und wurdest 2011 zu einer der 100 bedeutendsten IT-Persönlichkeiten Deutschlands gewählt.
Ja, finde ich immer noch beeindruckend. Das war die Wahl zu einer der bedeutenden Persönlichkeiten der ITK (=Informationstechnologie und Telekommunikation) von der Computerwoche aus. Die hatten diese Wahl ab und zu gemacht, aber ich glaube fast, die machen das gar nicht mehr, oder ich bekomme das nicht mehr mit. Ich bin stolz darauf, auf der Liste zu sein. Nicht nur deswegen, weil traurigerweise nur 5 Frauen zu den 100 wichtigsten IT-Leuten für Deutschland zählten, sondern auch, weil ich eine von ganz wenigen Personen war, die nicht mit Bezug auf irgendeine Universität, Politik oder ein großes Unternehmen dabei war. Soweit ich mich erinnere, war ich die einzige, die komplett selbstständig als Einzelkämpferin unterwegs war und nicht ein Unternehmen aufgebaut oder eben Forschung betrieben hat.
„In Smalltalk und auch Patterns liegen die Hauptwurzeln der Agilität”
Dein Hintergrund war Agilität ...
In der Agilität bin ich schon lange unterwegs, was auch mit meinen Wurzeln zu tun hat. Ich habe in der Softwareentwicklung angefangen, zuerst mit C++ und dann habe ich meine Sprachenliebe Smalltalk kennengelernt. Auch Patterns war für mich immer wichtig. In Smalltalk und auch Patterns liegen die Hauptwurzeln der Agilität, von daher war es für mich ganz natürlich, in die agile Ecke reinzurutschen.
Dann lass uns doch mal zurückspringen. Du hast irgendwann mal was studiert und dann hast du angefangen, in C++ und Smalltalk zu programmieren, das muss Mitte der 90er gewesen sein.
Jaaa, ich hab mehrfach studiert, zuerst auf Lehramt. Als ich fertig wurde, brauchte man aber gerade keine Lehrer, daher habe ich mich dann für ein Ingenieurstudium entschieden, weil ich dachte, da gibt es dann wohl auch Jobs. Während des Studiums kam dann irgendwann das Kultusministerium auf mich zu …
Jetzt genauer: Ingenieurstudium TU Braunschweig?
Nee, nee ich war in Furtwangen im Schwarzwald.
Wann war das?
Ach Gott, ich bin, glaube ich, 1992 fertig geworden.
Das heißt, du kommst aus dem Süden, aus der Schwarzwälder Gegend.
Nein, nein, Johannes, ganz vorsichtig! Schwarzwald ist ja Baden und ich komme aus Württemberg. Ich bin zum Studieren ins Feindesland gegangen, wobei ich auch ganz ehrlich sagen muss, als ich da in Württemberg oder Schwaben aufgewachsen bin, wusste ich gar nicht, dass eine Art Grenze zwischen Baden und Württemberg verläuft. Das wurde mir aber sehr deutlich gemacht, als ich im Schwarzwald studiert habe.
Das heißt, du bist eigentlich ins Badener Ausland gegangen, zu den Sauschwaben, und das können wir alles nicht schreiben … (lacht)
… den Gelbfüaßler … Genau, und während ich noch im Schwarzwald studiert habe, kam das Kultusministerium auf mich zu und hat gesagt: Oh, jetzt sind aber überraschend ganz viele Lehrer in Ruhestand gegangen, können wir Sie nicht reaktivieren und wollen Sie nicht vielleicht doch. Und habe eine Stelle angeboten bekommen. Dann kamen die immer wieder Jahr für Jahr auf mich zu, und ich habe immer gesagt: Nee, nicht dieses Jahr, vielleicht nächstes. Ich habe mir die Tür ziemlich lange offen gehalten, ging aber nie zurück. Jetzt habe ich wahrscheinlich zu weit ausgeholt :-)
Das macht nix. Und dann hast du halt das Informatikstudium …
Ich bin keine Informatikerin, ich bin Ingenieurin. Im Grundstudium habe ich programmieren gelernt. Mir hat das einen Riesenspaß gemacht. Ich hab erst noch überlegt, ob ich noch wechsele auf Informatik, und dachte dann nur, mein Gott, das ist schon das zweite Studium und irgendwie muss ich auch gucken, dass ich mal fertig werde. So legte ich im Ingenieurstudium den Schwerpunkt auf Softwareentwicklung. Das war problemlos möglich.
Spannend. Zu dem Anteil von nur 25 Prozent Frauen, die wir in Deutschland in den Informatik-Studiengängen haben, sagt eine These: Wenn Informatik nicht schon im Kindesalter gemacht wird, wird es für Mädchen und Frauen schwer, in die Domäne reinzugehen. Aber dir hat es erst im Studium richtig Spaß gemacht?
Beim Ingenieurstudium waren wir auch nicht viel mehr Frauen. Ich bin da nicht reingerutscht, weil es so schön weiblich war oder so …
Abb. 01: Frau Eckstein auf der OOP
„Als Entwicklerin habe ich Smalltalk lieben gelernt”
Was war dein erster Job?
Ich habe während des Studiums ein paar Praxissemester gemacht und dort auch immer Software entwickelt, was klasse war. Auch die Diplomarbeit war eine reine Softwareentwicklungsgeschichte. Da hatte ich eine Visualisierung für ein CAE-System geschrieben, was ewig lang noch im Einsatz war. Der erste richtige Angestelltenjob war in Konstanz. Als ich meine erste Visitenkarte bekam, schlug ich vor, die E-Mail-Adressen drauf zu schreiben. Der Vorschlag wurde niedergeschmettert, das sei zu nerdig. Das ist halt lange her … Ich kam dann nach München zu einem Beratungsunternehmen. Die haben mich in ein Projekt reingesteckt, das mit Smalltalk entwickelt wurde. Als Entwicklerin habe ich das dann lieben gelernt.
„Ich war in den 90ern in den USA und habe dort ganz viele Leute kennengelernt, die heute als Koryphäen gelten”
Abb. 02: Teamsitzung
Wie bist du auf die agile Schiene gekommen und auf diese Internationalität?
Ich war in den 90ern in den USA auf der OOPSLA-Konferenz und habe dort ganz viele Leute kennengelernt, die heute als Koryphäen gelten. Damals gab es für mich dieses Gefühl, dass alles im IT-Bereich dort passiert. Teilweise stimmt das ja auch. Teilweise stimmt es natürlich auch nicht, hier in Europa passiert auch ganz viel. Dazu begann ich dann bei Park Place zu arbeiten, einem US-Unternehmen mit Tochtergesellschaft in Deutschland. Ich begann, auf internationalen Konferenzen zu sprechen, und so wurden die Kontakte in die USA immer mehr. Manchmal denke ich, es hängt mit meinem Lehramtsstudium zusammen, dass es irgendwie natürlich für mich war, da vorne zu stehen und zu erzählen.
Das heißt, dieses ganze Thema Verbreitung von Wissen und Lehre, Lehramtsstudium, da gibt es schon so einen roten Faden in deinem Lebenslauf.
Genau, nur dass es nicht in den Schulen passiert ist, sondern im Konferenzumfeld.
Als Chair der OOP sorgst du dafür, dass internationale Sprecher auf die Konferenz kommen. Das ist eine Faszination für die Teilnehmer, die Granden aus den USA sprechen zu hören.
Ja, aber das hatte auch Francis Paulisch schon früher gemacht. Die Idee ist, dass die Teilnehmer zu einer Konferenz in der Nähe können, wo sie Leute erleben, die von weiter weg sind. Und ich finde, wir haben auch in Europa ganz großartige Leute, die tolle Sachen machen. Deshalb schaue ich nicht nur in die USA.
Englisch ist die Lingua franca in der Informatik. Müssen wir in Deutschland überlegen, unsere Sprache auf der Arbeit auf Englisch umzustellen, um so wieder einen Wettbewerbsvorteil zu gewinnen?
Ach, da weiß ich gar nicht, ob ich hier die Richtige bin. Als ich 1998 meine erste Webseite hatte, entschied ich mich, die nur einsprachig und nur in Englisch zu machen. Das ist immer noch so. Von daher arbeite ich schon immer ganz viel in und auf Englisch. Auch bei vielen meiner deutschen Kunden ist Englisch die Arbeitssprache, weil es rein deutsche Unternehmen gar nicht mehr so viele gibt. Vor allem in der Software gibt es fast immer einen globalen Zusammenhang. Entweder sind Kunden weltweit oder man hat im Zuge von Outsourcing einen Standort in Indien oder Irland …
„Ich erlebe aber auch, dass es einigen schwerfällt, auf Englisch zu diskutieren”
Abb. 03: Frau Eckstein auf der OOP
Ich habe oft gedacht, die Begrifflichkeit eines Unternehmens besteht vielleicht aus 200 Fachbegriffen, da könnte man auch ein Glossar machen. Das ist dann nicht viel komplizierter zu lernen als eine neue Programmiersprache ...
Ja, das ist wahr. Ich erlebe aber auch teilweise sogar in hochtechnischen Unternehmen, dass es schon einigen schwerfällt, auf Englisch zum Beispiel zu diskutieren. Es fehlt die Sicherheit in der Sprache, wenn es darum geht, argumentativ einen Punkt zu machen. In einer Fremdsprache ist es oft schwieriger, wenn es in die Softskills und die Gefühlswelt reingeht, das dann entsprechend rüber zu bringen. Selbst bei Firmen, wo Englisch die Hauptsprache ist, tun sich doch einige Leute schwer. Da ist natürlich die Frage, wird das vielleicht über die Generationen anders.
Dass das schwierig ist, das ist klar. Aber der Druck, unter dem die Unternehmen mit dem Fachkräftemangel sind, legt doch nahe, hier international auszuweichen. In Berlin Kreuzberg auf den Straßen sprechen die Leute auch Englisch.
Das ist nicht nur in Berlin so. Hier in Braunschweig, wo ich wohne, ist das auch so, was vielleicht daran liegt, weil wir im Univiertel wohnen. Wir schauen uns da oft an und sagen, das ist einerseits ganz cool und andererseits auch ein bisschen erstaunlich. War das früher auch schon so und wann ist das denn passiert? Auf den Straßen hört man bei uns vor allem Englisch und Spanisch, und dann manchmal Chinesisch oder so.
Jetzt haben wir in den letzten 18 Monaten über die Corona-Pandemie und das Remote-Arbeiten etwas gelernt, was die Open-Source-Community schon seit Langem kann: verteiltes Arbeiten. Bleibt das oder geht das wieder?
Ich höre schon, dass einige das beibehalten wollen, aber es gibt auch Firmen, die sagen, sie wollen zurück. Für mich war ab 2010 das verteilte Arbeiten das Normale. Das ging los mit Outsourcing. Ich habe die große Hoffnung, dass viele nun gelernt haben, dass, wenn auch nur eine Person in diesem Meeting remote ist, alle remote sind. In den hybriden Meetings, an denen ich teilnehme, suchen wir nach der immer höchsten gemeinsam verfügbaren Bandbreite für die Kommunikation und richten uns dann nach der am schlechtesten angebundenen Person.
„Ich glaube, agile Unternehmen werden nicht mehr lange damit durchkommen, Nachhaltigkeit zu vernachlässigen”
Nachhaltigkeit und Ökologie ist dir ein wichtiges Thema. Bietet sich durch hybride Arbeitsweise hier eine Chance?
CO2-Einsparung durch weniger Pendeln? Ich bin da ein bisschen vorsichtig, denn weniger persönliche Treffen führen möglicherweise auch dazu, dass die Innovationskraft nachlässt. Ich erlebe Innovation meistens so, dass man mehr oder weniger nebenher irgendwas entdeckt. Nebenher ist nun aber aus unseren Kalendern gestrichen, und es ist schwieriger, solche Emergenz zu haben. Ich glaube, agile Unternehmen werden nicht mehr lange damit durchkommen, Nachhaltigkeit zu vernachlässigen. Denn Talente zu finden, wird immer schwieriger und die Expertinnen und Experten der Zukunft werden sich glaubwürdige agile und nachhaltige Unternehmen suchen. An dem Punkt waren wir ja vorhin schon mal. Das Gleiche gilt für Kunden und Märkte. Das heißt, Nachhaltigkeit wird mehr und mehr zum Erfolgskriterium, davon bin ich überzeugt. Wenn es beispielsweise darum geht, weniger ins Büro zu pendeln, dann ist Software auf der guten Seite. Andererseits gibt es eine Hochrechnung, die prognostiziert, dass 2030 die IT 21 Prozent des gesamten Energieverbrauchs benötigt.
Müssten wir in der IT mehr gestaltende Schritte nach vorne machen?
Zumindest sehe ich, dass das bei Start-ups diskutiert wird. Da ist es eher normal, dass man sich um Nachhaltigkeit kümmert. Ich habe gestern mit einem befreundeten CEO eines brasilianischen Softwareunternehmens gesprochen, der mir stolz berichtete, wie sie ihr Modell zur Bestimmung von Gehaltserhöhungen auf demokratischere Füße gestellt haben. Stichworte hier sind Bossa nova und unternehmensweite Agilität. Dazu habe ich gleich einen Artikel auf unseren Blog gestellt.
Da wäre ja jetzt der schönste letzte Schritt, wenn die Unternehmen auch den Mitarbeitenden oder den Kunden gehören würden, also Unternehmen, die in der Vereinsform den Kunden gehören.
Ich finde, gerade in Deutschland gibt es einiges an nachhaltigen Strukturen wie Genossenschaften, oder wie wichtig der Betriebsrat genommen wird, es also immer eine Arbeitnehmervertretung in Großunternehmen gibt. Das ist in den USA nicht so bekannt. Auf der anderen Seite ist das Shareholder value-Prinzip aus den USA in Deutschland angekommen und hat ältere Modelle bei uns etwas verdrängt. Nun gibt es auch in den USA Top-Unternehmen, die sich vorgenommen haben, zukünftig die Mitarbeiter und Kunden gleichgewichtiger zum Shareholder machen.
Jetzt sind Informatiker und Nerds ja eher stille Charaktere, die kommunikationsschwächer sind als Marketingmenschen. Sollten wir eine IT-Gewerkschaft gründen, Jutta, um diese dritte Säule der Nachhaltigkeit zu verstärken?
Na ja, vielleicht. Ich weiß es nicht. Es ist ja echt ganz interessant, dass die ITler häufig nicht so in der Hierarchie mit drinstecken wie Leute in anderen Bereichen. Für Nerds sind coole Projekt und geile Technologie wunderbar. Die sind oft gar nicht so fixiert auf die Karriere.
„ITler sind nicht so karriereaffin”
Also, du beschreibst hier gerade ein Biedermeier-Phänomen. Sollten wir als ITler nicht unsere gesellschaftliche Verantwortung stärker wahrnehmen?
Das auf jeden Fall! Wenn ich so an die Steuerhinterziehungs-CDs oder ähnliche Enthüllungen denke, so kam der Tipp immer von der IT. Ich glaube, da liegt schon was drin, dass Softwareentwickler oft ein bisschen anders in Unternehmen unterwegs sind. Das aus unterschiedlichen Gründen, erstens sind sie nicht so karriereaffin, zweitens gibt es Jobs für ITler genug. So kann man sich in der IT auch eine gewisse Unabhängigkeit bewahren.
Soll ich als Interview-Titel „Raus aus der Bequemlichkeit, rein in die Verantwortung” nehmen?
Ja, und ich meine, jetzt wo du das gerade ansprichst, ich finde das auch wirklich großartig mit dem Track, den du im 5. Jahr auf der OOP machst, wo es genau darum geht, was ist eigentlich unsere Verantwortung als ITler in der Gesellschaft, was müssen wir hier eigentlich tun, und dass wir diesen Blick sehr weiten.
Jutta, vielen Dank für das Gespräch!
Weitere Informationen
Bsp. aus Brasilien, siehe:
https://www.agilebossanova.com/using-sociocracy-for-deciding-on-salary-increase
Bsp. aus Deutschland (Mayflower), siehe:
https://www.agilebossanova.com/how-can-you-make-salary-decisions-jointly-and-thus-equivalent
Juttas Konferenzgeschichte, siehe:
https://www.linkedin.com/pulse/my-conference-journey-give-take-jutta-eckstein
Juttas Werdegang und Webseite, siehe:
https://www.linkedin.com/pulse/my-journey-one-learning-time-jutta-eckstein
und
https://www.jeckstein.com/
Wikipedia, siehe:
https://de.wikipedia.org/wiki/Jutta_Eckstein
Herr Buck und Frau Eckstein
Blog von J. Eckstein und J. Buck,