Geoinformationssysteme gestern und heute: Wo liegen die Unterschiede?
Schomakers: Das Thema GIS ist mittlerweile erwachsen geworden. In den 80er-Jahren handelte es sich dabei in erster Linie um Fachexperten-Systeme, die in und für die Wissenschaft betrieben wurden. GIS sollten Fachprobleme bei Planungs- und Umweltthemen lösen. Dabei standen Systeme im Fokus, die Karten mit weiteren Informationen verbinden, um daraus Mehrwert zu generieren. Ausgangspunkte waren Business Intelligence (BI) und Analytics. In diesem Feld tummelten sich rund 50 Anbieter. Heute hat sich die Geo-Industrie stark konsolidiert, und es gibt nur noch rund zehn Anbieter.
Was war der Grund für die Konsolidierung?
Der Grund ist die klassische Entwicklung der IT: Es kamen stets neue Anwendergruppen hinzu, die den Wert der Lösungen erkannten. Das Spektrum reicht vom Consumerbereich mit den Navigationssystemen über Trassenplanungen bei Energieversorgern, Standortplanungen bei Einzelhändlern oder produzierenden Unternehmen bis hin zum Risiko- und Supply-Chain-Management. Die meisten Unternehmen und Behörden müssen sich heute mit räumlichen Fragen beschäftigen. Dazu kommt: GIS-Lösungen wurden zu etablierten IT-Systemen, auf die Hunderte oder Millionen Anwender zugreifen.
GIS ist also ein klassisches IT-Kerngebiet?
Es ist eine weitere IT-Dimension. In der Vergangenheit schmorten BI-Systeme immer im eigenen Saft. Unternehmen schauten sich die eigenen Daten in einer Dimension an. Neue Erkenntnisse entstehen jedoch, wenn Außensichten und externe Daten hinzukommen. Und noch größerer Erkenntnisgewinn ergibt sich dann, wenn die Dimension Raum miteinbezogen wird – also die „Location“.
Was verbirgt sich hinter „Location Intelligence“?
Location Intelligence ist die Erweiterung von Business Intelligence um den Raumbezug. Damit können Daten nicht nur in ihrer Zweidimensionalität, sondern in 3D und im Raumbezug entsprechend ausgewertet und in Kontext gesetzt werden. Die Intelligenz entspringt dabei nicht nur aus den Daten des einzelnen Business, sondern wird um weitere Informationen angereichert. Handelsunternehmen können so beispielsweise geografische oder demografische Daten auswerten und feststellen, ob der Standort auch in Zukunft noch interessant ist, weil die Zielgruppe nicht abwandert.
Anderes Thema: Esri entwickelte ein Corona-Dashboard für Deutschland. Wie kam das Projekt zustande?
Der Pandemie-Beginn war eine ungewöhnliche Situation. Wir standen vor der Frage, ob wir unsere jährliche User Conference, die stets Ende Februar/Anfang März stattfindet, absagen sollten. Die Verunsicherung war groß – nicht nur bei uns im Unternehmen, sondern auch bei Behörden, mit denen wir sprachen. Das Thema Informationsmanagement und die gesicherte Bereitstellung von Informationen für die Bevölkerung wurde immer konkreter. Dabei sollten Fragen nach Ausbreitungsorten und -zahlen beantwortet werden.
Sind die Esri-Corona-Dashboards die ersten ihrer Art?
Das erste Dashboard auf Basis der ArcGIS-Plattform von Esri stammt von der Johns-Hopkins-Universität. Es präsentiert die weltweiten Informationen zu Corona. Auf der User Conference, die unter strengsten Hygiene-Regeln 2020 noch stattfand, haben wir den Entschluss gefasst, das Dashboard für Deutschland zu entwickeln und den Behörden zur Verfügung zu stellen.
Wie kam die Zusammenarbeit mit dem Robert Koch-Institut zustande?
Wir haben das Digitalministerium kontaktiert. Bereits zwei Tage später waren Esri-Mitarbeiter im Bundeskanzleramt und präsentierten die Möglichkeiten der Lösung. Zudem sprachen wir mit dem RKI. Alle Beteiligten waren von dem Projekt überzeugt und so haben wir ein Team zusammengestellt, um das Dashboard zu realisieren.
Wie war das Team besetzt?
Das Team bestand aus verschiedenen Mitgliedern: Ein Vertreter hat die politische Situation im Blick, außerdem waren Kartografen mit von der Partie sowie Data Scientists und Data Engineers.
Jürgen Schomakers über die Zusammenarbeit mit dem Robert Koch-Institut
Wie lange dauerte die Entwicklung‘?
Nach nur zwei Tagen konnten wir die erste Version präsentieren. Wir informierten Esri-Kollegen weltweit und erklärten das Prozedere mit der Kontaktaufnahme zur Regierung und Gesundheitsinstitutionen. Das Ergebnis: Heute sind zig Dashboards für alle möglichen Länder im Einsatz – mit millionenfachen Zugriffen auf die Plattform.
Woher stammen die Daten?
Grundlage der Berechnungen sind ausschließlich die offiziellen Zahlen, auf deren Basis auch offizielle Entscheidungen getroffen werden. Diese Zahlen werden von den Gesundheitsämtern an das RKI gemeldet, dort konsolidiert, in der Nacht gerechnet und laufen dann in das Dashboard. Andere Webseiten machen das anders: Sie crawlen und sammeln Daten aus unterschiedlichen Quellen. Esri wählte bewusst den anderen Weg, denn es ist immer auch ein Politikum, wie man mit den Zahlen umgeht.
ArcGIS ist die Plattform. Was steckt alles drin?
Das System ist im Verlauf der letzten 50 Jahre entstanden. Es ist für Desktops, mobile Geräte als SaaS- und als PaaS-Lösung vorhanden. Zudem sind unzählige Apps verfügbar. Wir haben weltweit 2000 Partner, die Apps entwickeln. Ein herausragendes Feature ist der „Living Atlas of the World“: die weltweit wohl größte Sammlung geografischer Informationen mit Entwicklerservices, Datenservices und location services. Er ist quasi der digitale Zwilling der Welt beziehungsweise eines bestimmten Raumes.
Gibt es dafür ein Beispiel?
Beispielsweise hat die Stadt Zürich einen digitalen Zwilling, bei dem man raumbezogene Daten verknüpft und nutzbar macht. Das digitale Abbild ist hier die Grundlage unter anderem für Stadt-, Verkehrs- und Energieplanung.
Sind Google Maps und die Mesh-ups, die daraus entstehen, eine Konkurrenz?
Google und Esri bedienen unterschiedliche Märkte. Google hat mit Maps das Thema Geodaten in die Breite gebracht und leistete Pionierarbeit dafür, wo Daten im Alltag genutzt werden können und dass Geodaten einen Mehrwert haben. Doch Google Maps ist kein GIS und erlaubt keine Analysen oder Location-Dienste, wie sie beispielsweise Amazon benötigt. Das Unternehmen hat seinen Location-Dienst Ende des vergangenen Jahres vorgestellt – und nutzt Esri-Technologie und Daten im Hintergrund für die Amazon-Services.
Behörden und Privatwirtschaft nutzen GIS. Wer ist die Hauptklientel?
In Deutschland besteht die Kundschaft zu zwei Dritteln aus der öffentlichen Verwaltung und zu einem Drittel aus der Privatwirtschaft. Versicherungen sind dabei ein großer Kundenkreis. Generell lässt sich sagen: Überall dort, wo man die Datenmengen mit traditionellen Mitteln nicht mehr erfassen, analysieren und visualisieren kann, hilft die räumliche Darstellung.
Jürgen Schomakers
Woher stammen die Karten?
Wir haben Partnerschaften mit Anbietern von Satellitendaten und Anbietern wie Tom Tom oder Here. Wir selbst produzieren keine Karten. Esri ist ein klassisches Technologiehaus und verkauft Technologien, für die Daten das Öl sind, oder pragmatischer ausgedrückt: Technologien, mit denen Unternehmen aus ihren eigenen Daten Karten erstellen können.
Open Data: Wie ist der Stand der Dinge?
Die Wichtigkeit von Open Data ist erkannt und es gibt mittlerweile eine Bewegung, möglichst viele Daten bereitzustellen. Doch Open Data muss auch noch Hürden nehmen: Die Datenhoheiten liegen auf Landes- oder Kommunalebene, und hier gibt es große Unterschiede in der Bereitstellung.
Was sind die Trendthemen bei GIS in den nächsten 12 bis 18 Monaten?
Es gibt eine starke Nachfrage nach SaaS- beziehungsweise Cloud-Anwendungen. Big Data und die Visualisierung unstrukturierter Text- und Geodaten ist ein weiteres großes Thema. Ebenso das Internet der Dinge, denn die Informationen aus Sensoren müssen ausgewertet werden. Diese Stränge laufen zusammen und schaffen Durchgängigkeit – bei der Stadtplanung beispielsweise vom Baustein bis zum Umfeld, das mit Augmented Reality und in 3D sichtbar gemacht werden kann. So bringen Autodesk und Esri bereits die Themen Bauwerksdatenmodellierung (Building Information Modeling, BIM) und GIS zusammen. Damit sollen bei Infrastrukturprojekten Häuser, Schulen, Straßen, Verkehrssysteme, Entwässerungs- und Energienetze nicht mehr isoliert voneinander geplant, konzipiert und gebaut werden, sondern so, dass sie in das sie umgebende Ökosystem passen und damit interagieren. Denn das ist ein weiteres großes Thema, das immer stärker ins Zentrum rückt: die Nachhaltigkeit. Nach der Pandemiediskussion wird das Thema Umwelt und Bio Diversity eine dominierende Rolle einnehmen. Die Anforderungen an GIS werden dabei um ein Vielfaches größer. Und GIS wird dabei einen Teil dazu beitragen, die großen Probleme unserer Zeit zu lösen.
Jürgen Schomakers arbeitet seit 2011 in wechselnden Managing-Positionen für Esri. Seit Juli 2019 agiert er als Managing Partner für Esri Deutschland und die Schweiz. Vor seinem Engagement für den GIS-Spezialisten war er in der Geschäftsführung der Siemens IT Solutions and Services GmbH für das Outsourcing-Geschäft verantwortlich. Davor arbeitete er von 2006 bis 2008 als COO für die Siemens AG. Studiert hat Schomakers Wirtschaftsgeografie in Münster und Osnabrück.
Das Interview führte Christoph Witte, E-Mail: cwitte@wittcomm.de
Jürgen Schomakers arbeitet seit 2011 in wechselnden Managing-Positionen für Esri. Seit Juli 2019 agiert er als Managing Partner für Esri Deutschland und die Schweiz. Vor seinem Engagement für den GIS-Spezialisten war er in der Geschäftsführung der Siemens IT Solutions and Services GmbH für das Outsourcing-Geschäft verantwortlich. Davor arbeitete er von 2006 bis 2008 als COO für die Siemens AG. Studiert hat Schomakers Wirtschaftsgeografie in Münster und Osnabrück.