Herr Dr. Seidenfaden, erzählen Sie doch ein bisschen über MTU Aero Engines. Gemessen an seiner Größe und an seiner Notierung im DAX, weiß man eigentlich relativ wenig über das Unternehmen.
Lutz Seidenfaden: Das liegt sicherlich auch an der Branche, in der wir arbeiten. Wir sind eine B2B-Company und bauen Komponenten für Flugzeugtriebwerke. Wir sorgen dafür, dass Flugzeuge fliegen. Privatpersonen kaufen unsere Produkte nicht ein, aber sie fliegen damit, wenn auch die meisten das nicht wissen.
Wenn Sie sagen, dass MTU dafür sorgt, dass Flugzeuge fliegen, hat das ja durchaus eine doppelte Bedeutung. Sie bauen Komponenten für Triebwerke, aber MTU verfügt auch über ein ausgeprägtes Instandhaltungsgeschäft.
››Wir unterhalten auf der ganzen Welt Standorte‹‹
Ja, das ist unser zweiter großer Geschäftsbereich. Wenn die Engines im Luftverkehr im Einsatz sind, dann halten wir diese ein ganzes Flugzeugleben lang instand. Wir unterhalten auf der ganzen Welt Standorte, um die Fluglinien entsprechend versorgen zu können.
Was hat Sie bewogen, als CIO zu MTU zu gehen?
MTU ist ein absolutes Hightech-Unternehmen mit Produkten made in Germany, mit hochpräziser Fertigung. Das ist natürlich besonders in Zeiten der Digitalisierung ein tolles Betätigungsfeld für die IT. Mich fasziniert es sehr, diese hochpräzise physische Fertigung mithilfe von Industrie-4.0-Ansätzen und -Lösungen in die digitale Welt zu öffnen und so zu erweitern. Es ist ultraspannend, die Ingenieurswelt mit der virtuellen Welt zu verbinden.
Sie haben kürzlich im CIO-Erfahrungsaustausch, eine wöchentlich stattfindende Austauschplattform, die vom Anwenderverband VOICE e. V. für CIOs veranstaltet wird, über die Digitalisierung bei MTU gesprochen. Was macht Digitalisierung bei MTU aus?
››Wir pflegen einen holistischen Ansatz bei der Digitalisierung‹‹
Wir pflegen einen holistischen Ansatz. Einerseits verfolgen wir die Digitalisierung in unseren klassischen Geschäftsbereichen Triebwerksherstellung und Ersatzteilgeschäft. Hier arbeiten wir mit Industrie-4.0-Ansätzen und verfolgen Konzepte wie smarte Fabrik, Echtzeitdatenverarbeitung oder Predictive Maintenance. Im zweiten großen Standbein, dem Instandhaltungsgeschäft, bearbeiten wir sowohl Optimierungsthemen wie Flottenplanung als auch Herausforderungen an der Kundenschnittstelle. Wir bieten unsere Kunden zum Beispiel weltweit eine Customer Journey auf Basis einer einheitlichen Maintenance-Plattform an. Dort machen wir komplexe Planungsprobleme mittels KI-Ansätzen handhabbar und können so unseren Kunden noch bessere Maintenance-Angebote machen. Der dritte Bereich, den wir mit Digitalisierung verbessern möchten, ist die Administration. Da geht es um Prozesse, Back Office oder Service-Management.
Die folgende Frage drängt sich gerade bei MTU auf. Was machen Sie im Bereich Digital Twins?
Da haben wir ein großes Projekt gestartet, um unseren Backbone im Bereich Product Life Cycle Management auf den neuesten Stand zu bringen. Da geht es unter anderem auch darum, von der 2-D- in die 3-D-Welt zu kommen. In dem Zusammenhang bauen wir auch Digital Twins für unsere Triebwerke beziehungsweise Triebwerkskomponenten auf. Diese sammeln im Laufe ihres Life Cycle neben Wartungs- auch Betriebsdaten, die wir dann wieder unserer Entwicklung zur Verfügung stellen können. In diese Richtung bewegen wir uns und das ist ein sehr interessantes Thema bei uns.
Auf einer Skala von eins bis zehn. Wo würden Sie da MTU im Bereich Digitalisierung ansiedeln?
Das hängt natürlich von den betrachteten Bereichen ab. Aber im Durchschnitt schätze ich, dass wir uns zurzeit zwischen 5 und 7 bewegen. In den nächsten zwei Jahren wollen wir uns aber stark in Richtung 8 bewegen.
Welches sind Ihre Leuchtturmprojekte im Bereich Digitalisierung?
Das ist zum einen die digitale Maintenance-Plattform, also die Kundenschnittstelle mit ihren über 80 Touchpoints sukzessive zu digitalisieren. Das zweite ist, im PLM-Backbone für wirklich durchgehende Engineering-Prozesse zu sorgen. Auf Ihrer Skala können wir unserer IT-Landschaft rund um die Entwicklung unserer Triebwerke durchaus eine 9 bis 10 geben. Da sind wir weltweit ein Benchmark.
Und welches sind die größten Hürden, die auf dem Digitalisierungsweg noch zu überwinden sind?
Bei uns sind die weltweiten Digitalisierungsvorhaben strenger reguliert und damit komplexer als in anderen Industrien. Außerdem tun wir uns in Europa in Bezug auf die rechtlichen Voraussetzungen beim Datenschutz etwas schwerer mit der Digitalisierung. Ein sehr menschliches Thema ist außerdem die im Vergleich zu anderen Ländern in Deutschland ausgeprägtere Hightech-Skepsis und die relativ niedrige digitale Bildung. Beides führt auf der einen Seite zu stärkerer Zurückhaltung gegenüber digitalen Services. Auf der anderen Seite führt die geringe digitale Bildung aber auch zu übertriebenen Erwartungen.
Wie gehen Ihre Mitarbeitenden mit dem Thema Digitalisierung um? Generell gilt ja in Deutschland, dass Mitarbeitende der Digitalisierung eher skeptisch gegenüberstehen. Woran liegt das?
››Der größte Hebel der Digitalisierung liegt in der Vereinfachung und Umgestaltung der Prozesse‹‹
Ich habe vier Jahre in Asien gelebt und im Vergleich zu den Menschen dort tut sich der Deutsche generell mit Veränderungen schwerer. Bei der Digitalisierung haben Skepsis und Angst ihre Ursache im mangelnden Verständnis. Digitalisierung wird häufig nur als Schlagwort benutzt, das zudem noch häufig negativ besetzt ist. Genauso wie Automatisierung wird Digitalisierung als „Jobkiller“ betrachtet. Meiner Ansicht nach wird das aber nicht der Fall sein, allerdings müssen die Menschen weitergebildet und qualifiziert werden. Ich glaube sogar, dass Digitalisierung angesichts der demografischen Entwicklung einer der wesentlichen Hebel ist, mit dem wir unseren Wohlstand erhalten können. Sie hilft uns trotz alternder und schrumpfender Bevölkerung, die Produktivität zu halten oder sogar weiter auszubauen.
Perspektivisch haben Sie sicher recht, aber was tun Sie heute gegen die Skepsis und Angst der Mitarbeitenden?
Letztendlich Digitalisierung erklären. Wir haben ein „Future Readiness Programm“ aufgelegt. Da bin ich auch persönlich involviert mit interaktiven Online-Formaten, in denen ich Fragen zur Digitalisierung im Generellen, aber auch zu speziellen Vorhaben und Projekten beantworte. Auch unser Vorstand ist hier aktiv. Er äußert sich direkt über Zukunftsthemen. Es geht uns darum, Lust auf Zukunftsthemen zu machen, und da gehört die Digitalisierung sicher dazu. Am ehesten überwindet man die Ängste der Mitarbeitenden, indem man erklärt, wie Digitalisierung funktioniert und wie sie ihnen hilft. Wir rücken, ganz anders als früher, Schulung wirklich in den Mittelpunkt. Wir haben uns als IT das strategische Ziel gesetzt, uns zum Partner für Digitalisierung weiterzuentwickeln.
Apropos Strategie: Welches sind denn die wichtigsten Aufgaben der IT in der Digitalisierung?
Zum einen, das, was ich gesagt habe: Erklären, was möglich und was nicht möglich ist. Da die IT auch der einzige Bereich im Unternehmen ist, der den Überblick über alle Prozesse und Datenströme hat, geht es auch darum, in die Vermittler- und Beraterrolle zu gehen zwischen den Fachbereichen, die die Prozesse ganzheitlich im Blick behält.
Überschätzt sich die IT da nicht, wenn sie sich als Treiber beziehungsweise Berater der Digitalisierung positionieren möchte?
Ich glaube nicht. Der größte Hebel der Digitalisierung liegt nicht so sehr in einzelnen Projekten, sondern in der Vereinfachung und Umgestaltung der Prozesse insgesamt. Den Überblick über die Prozesse und ihr Zusammenspiel hat häufig nur die IT. Außerdem hat sie das große Privileg, standortübergreifend zu arbeiten. So hat sie die Möglichkeit, bei Konflikten zwischen den Standorten moderierend zu wirken.
Wird denn diese Einschätzung in der Topetage bei MTU geteilt?
Wir haben vom Vorstand ganz klar den Auftrag, als Kompetenzzentrum für Digitalisierung zu wirken. Aber ich glaube nicht, dass die IT das allein kann. Deshalb lautet mein Motto, unter dem ich hier bei MTU angetreten bin, auch: „IT and Business fly together“. Es ist immer ein Miteinander mit den Geschäftsbereichen. In meinen bisher zwei Jahren hier hat sich in der Hinsicht viel getan und wir schaffen da wirklich gute Lösungen. Dabei sind wir manchmal der Treiber und manchmal sind es eben die Geschäftsbereiche, aus denen wirklich auch gute Ideen kommen.
Das Interview führte Christoph Witte, E-Mail: cwitte@wittcomm.de