Der verstummte Diskurs
Tatsächlich ist es so, dass man über das allgegenwärtige KI-Marktgeschrei im öffentlichen Diskurs kaum noch etwas anderes zu hören bekommt. Von vielen Themen, die vor KI lautstark und hochemotional diskutiert worden sind, bekommt man derzeit kaum noch etwas mit. So auch beim Thema Architektur. Ja, ab und an hebt mal jemand die Hand und sagt, dass Domain-Driven Design das „42“ der Softwarearchitektur sei, also die Antwort auf alle Fragen zu dem Thema.
Und dann ist wieder Ruhe. Genauer: Dann übernehmen die KI-Marktschreier wieder das Ruder und bestimmen den Diskurs. Kein Widerspruch, dass Domain-Driven Design nur eine Facette der Architekturarbeit, nämlich die fachliche Architektursicht abdecken würde. Kein Widerspruch, dass es zum Thema Facharchitekturen noch mehr gäbe als Domain-Driven Design. Kein Widerspruch, dass der Begriff aufgrund all der Dinge, die sukzessive mit unter das populäre DDD-Dach gepackt worden sind, mittlerweile so verwässert worden ist, dass er eigentlich keine klare Aussage mehr hat.
Ich will jetzt nicht auf Domain-Driven Design herumhacken. Auch wenn ich persönlich davon überzeugt bin, dass das Thema nicht das „42“ der Softwarearchitektur ist, erachte ich viele der unter diesem Dach diskutierten Ideen und Ansätze als sehr wichtig und sehr wertvoll. Mir geht es eher um den weitestgehend verstummten Diskurs zum Thema Softwarearchitektur. Hat man nicht zufällig ein paar Mitglieder der DDD-„In-Clique“ in seinen Social Media Feeds, hört man fast nichts mehr zu dem Thema.
Früher war alles besser?
In der Vergangenheit war das anders. Da hatten wir wilde und unnachgiebige Debatten rund um die Softwarearchitektur – auch und gerade um die nicht fachlichen Aspekte. Erst SOAP versus REST. Dann REST versus Events. Parallel dazu REST versus gRPC versus GraphQL. Monolith versus Modulith versus Microlith versus Microservices. Event-Sourcing oder nicht. Und was ist das überhaupt? Zustandsbasierte versus transitionsbasierte Datenhaltung. CQRS oder doch besser nicht. Blueprint versus Architekturstil. Wie böse ist das Singleton-Pattern? Upfront versus währenddessen versus gar nicht. Single-Page Applications versus Hypermedia-basierte Frontend-Architekturen. Architekturarbeit als Aufgabe für Spezialisten oder für das Entwicklungsteam. Und. Und. Und.
Ob jetzt jede Debatte zielführend war, sei einmal dahingestellt. So erreichte etwa die Singleton-Debatte teilweise schon fast Tabs-vs-Spaces-Niveau. Ob deshalb früher alles besser in der Architekturwelt war, sei ebenfalls einmal dahingestellt. So wurde über all die schöne Technologie häufig einmal vergessen, auf die Fachlichkeit zu schauen, die das System in nachvollziehbarer und evolvierbarer Form abbilden soll – heute dank Domain-Driven Design nicht mehr wegzudenken. Aber es fand zumindest ein öffentlicher Diskurs statt. Aktuell ist es im Vergleich dazu sehr still geworden.
Ich frage mich an der Stelle, ob es an der überlauten KI-Kakophonie liegt, die mit milliardenschweren Marketing-Budgets befeuert wird. Oder haben wir ein zeitweiliges Plateau der Stabilität in der Architektur erreicht, auf dem man sich weitestgehend einig ist, wie man die Dinge auf technologischer Ebene angeht und so mehr Zeit und Energie darauf verwenden kann, sich mit der umzusetzenden Fachlichkeit auseinanderzusetzen: Hallo, Domain-Driven Design! Oder hat der DDD-Boom dazu geführt, dass man darüber zeitweilig alle Architekturthemen jenseits der Facharchitektur vergessen hat.
Darf es etwas mehr sein?
Möglicherweise ist es eine Kombination aus allem. Genau sagen kann man es eh nicht. Schaue ich aber bei meinen Kunden einmal hin, so stelle ich fest, dass es durchaus noch Diskussionsbedarf gibt, dass bei Weitem nicht alle Fragestellungen so eindeutig und abschließend geklärt sind, wie es den Anschein vermittelt, wenn man auf den tröpfelnden öffentlichen Diskurs schaut. Es gibt durchaus eine ganze Menge Bereiche, in denen sich Architekt:innen, aber auch Entwickler:innen mehr Ideen, Impulse und Orientierungshilfen wünschen, die nicht stumpf „Macht ab jetzt die KI“ lauten.
Wir brauchen wieder mehr offenen Diskurs im Bereich der Softwarearchitektur. Mein geschätzter Fachbeiratskollege Phillip Ghadir, selbst ein sehr erfahrener Architekt, hatte im Rahmen einer internen Diskussion zu den kommenden Schwerpunktthemen der IT Spektrum gerade bemängelt, dass er gute Artikel vermissen würde, die das Einerlei der üblichen IT-Monokulturen aufbrechen und neue Impulse setzen würden – sei es mit Blick auf Facharchitekturen, auf technische Architekturen oder auch auf Integrationsarchitekturen.
Ich kann ihm da nur zustimmen. Die Diskussion ist nicht zu Ende und es wird Zeit, dass wir sie wieder verstärkt führen. In Zeiten immer komplexer werdender Systeme und Systemlandschaften, die mit der ubiquitären Hinzunahme von KI nicht einfacher, sondern noch komplexer werden, ist es wichtig, dass wir wieder stärker diskutieren, wie wir eine solche Komplexität auf Architekturebene nachvollziehbar und handhabbar gestalten können.
Mit dem Schwerpunkt dieser Ausgabe versuchen wir, den Diskurs wieder ein ganz klein wenig anzufachen. Wir haben einige Beiträge gesammelt, die das Spannungsfeld Architektur diskutieren und versuchen, ein paar neue Impulse anzubieten. Das ist ein kleiner Anfang, reicht aber bei Weitem noch nicht. Entsprechend werden wir auch hier in der IT Spektrum immer wieder zum Diskurs beitragen. Aber erst einmal wünsche ich Ihnen eine anregende und erkenntnisreiche Lektüre!
Uwe Friedrichsen
Herausgeber