Sie sind jetzt gut ein halbes Jahr CIO der Deutschen Bahn, also für die IT des Gesamtkonzerns verantwortlich. Vorher waren Sie fünf Jahre lang CIO der DB Fernverkehr. Was ist jetzt anders?
Bernd Rattey: Die Verantwortung für eine Geschäftssparte ist natürlich immer anders, als wenn man für die ganze Gruppe verantwortlich ist. Im Fernverkehr konnte ich sehr gut lernen, was IT und Digitalisierung bei der Deutschen Bahn bedeuten und wie man sie gestalten muss, wenn man erfolgreich sein will. Der Fernverkehr hatte einen sehr schönen Slogan: Distanzen überwinden, Menschen verbinden. Und genau das habe ich dort gelernt.
Im Konzern ist das Spielfeld natürlich viel größer. Wir haben 330.000 Mitarbeitende und sehr verschiedene Geschäftsfelder. Dazu gehören beispielsweise das Trassenmanagement, unsere Züge im Fern-, Regional- und Güterverkehr oder On-demand-Angebote zur Überwindung der letzten Meile. Das ist sehr heterogen und bunt und spiegelt sich auch in der IT-Landschaft wider. Hier kommen viele verschiedene Systeme zusammen. In den vergangenen fünf Jahren bei DB Fernverkehr konnte ich da schon viel lernen, bin aber tatsächlich noch nicht am Ende meiner Lernreise angekommen.
"Produkt-IT ist eine Organisation, in der ich Menschen zusammenbringe, um im Kundensinne Digitalisierung zu gestalten"
Das ist sicher sehr viel komplexer und sicher auch sehr viel abstrakter, viel weniger Hands on, wenn Sie so eine riesige Gruppen-IT verantworten.
Ja, das war aber auch beim Fernverkehr so. Bei vielen unterschiedlichen Systemen quer durch die ganze Republik kann ich nicht jedes einzelne kennen. Das muss ich aber auch nicht. Die betriebskritischen Systeme stehen natürlich im Fokus. Sowohl im Fernverkehr als auch im Konzern geht es darum, die Steuerungsfähigkeit der IT zu gewährleisten. Und die muss auf drei Ebenen gegeben sein: in der Gruppe, in den Sparten und in der dezentralen IT (von vielen IT-Menschen in der Branche auch gerne „Schatten-IT“ genannt). Die dezentrale IT ist dabei für mich die IT der Zukunft, weil sie direkt am Geschäft stattfindet. Meine Aufgabe ist es also, ein Modell zur Steuerung aufzubauen, in dem wir die Abhängigkeiten erkennen und auch sehen, wie wir das Ganze gemeinsam gestalten können.
Sie haben eben das Leitbild der DB Fernverkehr genannt, Distanzen überwinden, Menschen verbinden. Gibt es auch für die Konzern-IT ein solches Leitbild?
Wir orientieren uns bei der Konzern-IT natürlich ganz stark am Leitbild unserer Strategie, der „Starken Schiene“. Unser Ziel ist es, mehr Verkehr auf die klimafreundliche Schiene zu bringen. Das schaffen wir, indem wir robuster, schlagkräftiger und moderner werden – beispielsweise durch einen schnelleren Takt, mehr Züge und klare Abläufe. Und das kann nur funktionieren, wenn wir auch die entsprechenden IT- und Digitallösungen dazu anbieten.
Können Sie uns da ein Beispiel geben?
Das beste Beispiel ist für mich ETCS (European Train Control System). Das ist ein digitales Zugleitsystem, mit dem die Abstände zwischen den Zügen auf den Trassen verringert und höhere Geschwindigkeiten ermöglicht werden können. Die Digitalisierung des Bahnbetriebs spielt also eine Schlüsselrolle, wenn es um die Umsetzung der „Starken Schiene“ geht. Und wir liefern die passende Digitalstrategie. Ein weiteres Element, was es einzubeziehen gilt, ist die Verbundlandschaft. Denn vieles funktioniert bei der Bahn nur unter Einbeziehung der Geschäftsfelder. Wenn wir die Pünktlichkeit im Fernverkehr verbessern wollen, sind die Baustellen ein wesentlicher Einflussfaktor. Die Planung der Baustellen liegt bei der DB Netz AG. Nur wenn beide Hand in Hand arbeiten, können wir mehr Pünktlichkeit erreichen. Deshalb muss sich auch die Konzern-IT an dieser Verbundlandschaft orientieren.
Das klingt alles sehr nach starker Kundenorientierung im Geschäft. Folgt der auch die IT-Strategie?
Das ist auch als Korrektiv wichtig. In der IT nehmen viele Leute die Technikperspektive ein. Die IT muss aber auch die Business-Perspektive einnehmen. Deshalb ist es für mich absolut folgerichtig, dass ich meine Strategie von der Konzernstrategie ableite und in einem nächsten Schritt auch meine Organisation. Ich denke also nicht mehr von der Technologie her, sondern vom Prozess beziehungsweise vom Produkt her.
Hört sich so an, als wenn Sie das Motto der DB-Fernverkehr sehr verinnerlicht haben.
Ja, man kann das durchaus auch auf die Beziehungen zwischen IT und Business anwenden und sogar auf die Beziehungen innerhalb der IT, wenn wir jetzt mal an das böse Wort von den Silos in der IT denken.
Die Bahn ist sehr konsequent auf Cloud-Computing umgestiegen. Wo sehen Sie da die größten Vorteile und mit welchen Nachteilen müssen Sie leben?
Wir haben unsere Cloud-Reise vor etwa sechs Jahren begonnen und waren damit einer der ersten großen Konzerne in Europa, der vollständig auf die Cloud gesetzt hat. Das wichtigste war und ist für uns dabei die Skalierbarkeit. Als Beispiel lässt sich hier die DB Navigator App nennen. Das ist unsere zentrale Kommunikations-App mit unseren Kundinnen und Kunden. Zu Verkehrsspitzenzeiten explodieren die Nutzendenzahlen. Da brauche ich schnell und flexibel Rechnerkapazität, um alle diese Kundinnen und Kunden schnell bedienen zu können.
Ein anderes Beispiel ist die Einsatzplanung für das Personal in den Zügen. Das haben wir früher On-Prem gemacht und das hat im Einzelfall über 160 Stunden gedauert, weil das wirklich komplex ist. Heute machen wir das in der Cloud innerhalb von 24 Stunden. Durch die schnellere Einsatzplanung sind wir viel flexibler und haben große Business-Benefits. Außerdem haben wir die Cloudifizierung mit einem großen Hausputz verbunden. Im Zuge der Umstellung sind viele Applikationen oder Komponenten aufgefallen, die kaum noch jemand benutzt hat oder überflüssig waren. Die haben wir inzwischen weitestgehend abgeschaltet.
Und Nachteile? Oder Sachen, an die man sich erst gewöhnen muss?
Strategisch muss einem natürlich klar sein, dass man nicht nur auf einen Hyper Scaler setzen darf, sondern mehrere nutzen muss. Das muss man dann auch managen. Die Vermeidung eines Vendor Lock-in gehört zur strategischen Vorsorge der IT. Uns ist auch klar geworden, dass sich Cloud nicht rechnet, weil wir Blech durch Rechnerwolke ersetzt haben, sondern durch eine andere Art der Zusammenarbeit zwischen den betriebsführenden und den anderen Teams. Das hat sehr stark mit Kulturveränderung zu tun. Wir haben wahrscheinlich noch nicht das ganze Potenzial der Cloud gehoben. Dazu müssen wir noch deutlich mehr machen. Das würde ich aber nicht als Nachteil sehen.
"Wir haben die Cloudifizierung mit einem großen Hausputz verbunden"
Können Sie uns ein Beispiel für Kulturwandel nennen, der mit der Cloud einhergegangen ist bei der Bahn?
Wir hatten plötzlich Transparenz, welche Anwendungen bei den Betriebsteams im Einsatz sind. Server, die nicht ausgelastet waren, fielen sofort auf. Heute ist viel mehr standardisiert. Was zunächst einmal gut klingt, muss aber von Kulturarbeit begleitet werden, damit die involvierten Menschen das auch gut finden, wenn sie zum Beispiel nicht mehr spontan auf einen Server zugreifen können, der ihnen früher einfach zur Verfügung stand. Die rund 1.000 Mitarbeitenden unseres ehemaligen Rechenzentrums arbeiten fast alle weiter als IT-Expertinnen und IT-Experten im Unternehmen, viele im Cloud-Umfeld, und treiben die Digitalisierung der Bahn weiter mit uns voran. Den Neustart haben wir versucht dabei so einfach wie möglich zu gestalten und beispielsweise mit Schulungen und Coaching-Angeboten unterstützt.
Ein ganz wichtiges Thema, das auch viele Ihrer Kolleginnen und Kollegen umtreibt, ist die Produkt-IT. Das Thema wird sehr unterschiedlich definiert. Was heißt Produkt-IT für die Deutsche Bahn und wie geht sie das an?
Produkt-IT ist eine Organisation, in der ich Menschen zusammenbringe, um im Kundensinne Digitalisierung zu gestalten. Für mich ist es eine Organisationsform, die auf die Wünsche der Kundinnen und Kunden eingeht. Der Fokus der Teams muss darauf liegen, darüber nachzudenken, was die Kundinnen und Kunden benötigen und was ihnen hilft. Diese Dinge gilt es dann zu entwickeln und zu betreiben. Dazu ist es ganz wichtig, dass wir eine gemeinsame Sprache sprechen, auf eine gemeinsame Landkarte schauen. Bei uns sind die Verbundprojekte so ein Schlüssel. Wenn ich da über verschiedene Silos hinweg keine gemeinsame Sprache spreche, wie soll ich dann entwickeln können, was der Kunde oder die Kundin will. Dabei steht nicht das Projekt oder das System im Fokus, sondern das Produkt. Zusammen mit dem Domänenmodell, also bei uns zum Beispiel der Verbundlandkarte, ist das enorm wichtig, weil es die Perspektive und Zusammenhänge komplett verschiebt. Es wird nicht mehr vom IT-System aus gedacht, was es kann und nicht kann, sondern vom Kunden oder der Kundin und welches Produkt er oder sie benötigt und haben möchte.
Was ist ein Produkt bei der Bahn? Ist das die Reise München-Hamburg oder ist es die ganze Sparte Fernverkehr?
Der Produktschnitt im Fernverkehr ist zum Beispiel das „Angebot“. Dazu gehört das Kern-Domänenmodell im Fernverkehr. Und dann kommen sehr schnell Bereiche hinzu, die zwar wichtig sind, aber nicht mehr in der Verantwortung des Fernverkehrs liegen, sondern in der der DB Netz AG zum Beispiel. Und es bringt gar nichts, wenn das Produkt „Reise” nur in Teilen ordentlich abgewickelt wird. Wir müssen als Bahn sehr stark von Ende-zu-Ende denken. Produkt-IT hilft dabei, über die einzelnen Sparten hinweg zusammenzuarbeiten.
Eignet sich eigentlich Produkt-IT für bestimmte Unternehmen mehr als für andere oder ist das ein Vorgehen, das allen Unternehmen guttun würde?
Im Grundsatz kann das für jedes Unternehmen funktionieren. Damit es aber funktioniert, müssen ein paar Dinge gegeben sein. Der erste wichtige Punkt ist die Verzahnung von Geschäft und IT. Wenn das noch nicht geschehen ist, wird das sehr schwierig. Idealerweise sollte man Produktorientierung vorher schon mal an einzelnen Facetten üben. In der Produkt-IT muss ich schnell Entscheidungen treffen, auch unabhängig von Hierarchien. Wenn es also streng hierarchische Unternehmen mit der Produkt-IT versuchen, könnte das leicht schief gehen. Grundsätzlich lässt sich Produkt-IT überall einsetzen, man muss aber genau auf die Umgebung schauen, in der man das vorhat.
Sie haben bei DB Fernverkehr bereits Erfahrungen mit Produkt-IT gemacht. Können Sie ein paar dieser Erfahrungen mit uns teilen?
Zunächst geht es darum, eine ausreichende Nähe zwischen Business und IT herzustellen. Also dafür zu sorgen, dass die Teams auch tatsächlich die Verantwortung übernehmen können. Wichtig ist auch, eher klein zu starten, eng zu begleiten und organisch zu wachsen. Außerdem sollte auf die Art der Zusammenarbeit im Team geachtet werden und darauf, wo sich das Team einordnet. Gehört es zum Business oder zur IT? Diese Frage sollte erst einmal offenbleiben. Es geht dabei auch um das Aufbrechen bisheriger Gewohnheiten und Arbeitsweisen. Zum Beispiel hat uns ein Manager nachdrücklich nach einem verbindlichen Abgabetermin gefragt. Als wir den nicht nennen wollten, mussten wir durchaus Überzeugungsarbeit leisten und noch einmal gut erklären, dass so etwas in der Produkt-IT nicht funktioniert.
Haben Sie vor, die IT der gesamten Bahn auf Produkt-IT umzustellen?
Wir haben ein föderales Modell in der IT bei der Deutschen Bahn. Deshalb kann die Corporate IT nicht per Ansage alle Themen durchsetzen. Selbst in einer einzelnen Sparte kann das von Oben herab nicht funktionieren. Wir werden vieles ausprobieren. Das ist ein evolutionärer Prozess. In fünf Jahren werden wir wahrscheinlich deutlich mehr Produkt-IT machen, aber nicht ausschließlich.
Wenn ein Unternehmen Produkt-IT realisieren möchte, wie sollte es damit beginnen?
Zunächst sollte man nach Menschen im eigenen Unternehmen suchen, die das auch machen möchten. Das erleichtert den Start. Wenn das möglich ist, sollten diese Enthusiastinnen und Enthusiasten auch in andere Unternehmen geschickt werden, die schon mit Produkt-IT arbeiten. Sie sollen den Alltag miterleben und ihn auch später im eigenen Unternehmen positiv vermitteln können. Sie müssen zu echten „Überzeugungstätern“ werden. Ohne Menschen, die das können, funktioniert die Einführung von Produkt-IT nicht. Deshalb geht mein erster Blick immer auf die Menschen, die mir dabei helfen können.
Sie stellen anders als viele andere CIOs den Menschen in den Mittelpunkt. War das schon immer so oder gab es ein Schlüsselerlebnis, das Ihr Verhalten verändert hat?
Ich habe ganz klassisch Informatik studiert und war anfangs auch eher technikorientiert. Dann habe ich aber einige Jahre eng mit Personalerinnen und Personalern gearbeitet, war sogar disziplinarisch der HR zugeordnet. Da habe ich mir schon einiges abgeschaut. Früher war es außerdem so, dass die Wirtschaft getrieben war von Organigramm, Macht und Ressourcen. Damit waren viele Unternehmen auch erfolgreich. Das hat sich mit der Digitalisierung verändert. Deshalb ist das, was ich im Personalwesen gelernt habe, heute sehr hilfreich. Unternehmen digitalisieren nicht erfolgreich, wenn sie ihre Mitarbeitenden einengen und maximal mit KPIs ärgern und dann darauf hoffen, dass danach tolle kreative Ideen entstehen.
"Wir müssen als Bah sehr stark von Ende-zu-Ende denken"
Sie haben kürzlich einmal gesagt, der Wille zur Zusammenarbeit ist wichtiger als Struktur. Können Sie das kurz erläutern?
Bei einem meiner früheren Arbeitgeber habe ich mal mit einem befreundeten Business-Manager diverse Projekte realisiert. Wir haben unser gutes persönliches Verhältnis genutzt, um etwas Neues auszuprobieren. Da haben meine Mitarbeitenden aus der IT Business-Aufgaben übernommen und seine Mitarbeitenden IT-Aufgaben. Wir beide haben nach außen den Rahmen gespannt und dafür gesorgt, dass das in unseren unterschiedliche Vorstandsressorts anschlussfähig bleibt. Wir haben damals festgestellt, dass das sehr gut funktioniert hat, obwohl wir in unterschiedlichen Abteilungen und unterschiedlichen Ressorts waren.
Wenn man diesen Gedanken weiterdenkt, kann man das auch sehr gut bei der Produkt-IT beobachten. Ein Organigramm erfüllt immer nur einen bestimmten Zweck in einer bestimmten Zeit. Gelebt und gearbeitet wird eigentlich zwischen den Kästchen. Es geht weniger darum, den Rahmen zu benennen. Ist das jetzt IT oder ist das Business. Wichtig ist doch, dass man den Rahmen nutzt. Es ist häufig viel wichtiger, wie wir zusammenarbeiten, und nicht, wie wir auf dem Papier organisiert sind.