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„Deshalb stehen alle Zeichen auf Gestalten und Vorwärts“

JavaSPEKTRUM sprach mit Dr. Walter Grüner, CIO und CDO des Werkstoffherstellers Covestro. Der Spezialist für Hightech-Polymerwerkstoffe fokussiert sich auf Kreislaufwirtschaft, nicht nur in seinen Produkten, sondern auch in den internen Produktionsprozessen. Der IT- und Digitalchef des Konzerns erklärt, warum und wie Covestro in die Cloud migrierte und was das Unternehmen dabei gewonnen hat.
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Christoph Witte

Chefredakteur IT Spektrum und BI-Spektrum


  • 24.03.2023
  • Lesezeit: 9 Minuten
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Zu Gast:
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Dr. Walter Grüner
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Dr. Walter Grüner ist seit Mai 2019 CIO und CDO bei der Covestro AG. Seine Karriere begonnen hat der promovierte Chemiker bei den Beratungsunternehmen A. T. Kearny und Booz Allen Hamilton. Danach wechselte er in die chemische Industrie. Dort war er zum Beispiel bei der Süd-Chemie von 2007 bis 2013 verantwortlich für die weltweite IT. Danach übernahm er die Rolle des CIO beim Lager- und Gabelstapler-Spezialisten KION.
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Dr. Walter Grüner Chief Information Officer (CIO) (1)

Sie sind CIO und CDO in Ihrem Unternehmen. Worin bestehen Ihre Aufgaben?

Walter Grüner: Meine Aufgabe ist es, die digitale Transformation maßgeblich zu gestalten.

Deshalb die Doppelrolle, die ja noch nicht in allzu vielen Unternehmen üblich ist?

Sie sagen es richtig, noch nicht üblich. Aber ich empfehle es den Unternehmen dringend, diese Verantwortungen zu kombinieren. Auf diese Weise reduzieren sie die Ausflüchte und Schuldzuweisungen zwischen der IT und dem Digitalteam. Das gilt natürlich auch für CIO und CDO. Wenn etwas nicht funktioniert, kann ich nicht die Schuld beim CDO suchen, sondern muss selbst schauen, was ich verbessern muss. Ich kann also keine Ausreden mehr anführen, aber kann sehr viel mehr gestalten, als wenn ich „nur“ CIO oder CDO wäre. Übrigens bin ich auch noch für das Thema IT/OT Security verantwortlich, sodass es auch dieses Fingerpointing bei uns nicht mehr gibt. Deshalb stehen alle Zeichen auf Gestalten und Vorwärts.

Ihr Unternehmen hat sich entschlossen, komplett in die Cloud zu gehen. Wann wurde dieser Entschluss gefasst und wie lange hat es gedauert, das Vorhaben umzusetzen?

Das war 2019. Ich bin ebenfalls in dem Jahr in das Unternehmen gekommen, mit dem klaren Auftrag, die Digitalisierung weiter voranzutreiben. Die noch eher traditionell aufgestellte IT des Konzerns war damals nicht mehr in der Lage, dem Digitalisierungsanspruch zu entsprechen. Insofern haben wir die letzten drei, dreieinhalb Jahre damit verbracht, die IT neu zu erfinden. Aber nicht zum Selbstzweck, sondern um die Digitalisierung in jeder Hinsicht zu unterstützen. Ein wichtiger Bestandteil davon ist die Cloud. Dabei haben wir darauf geachtet, die Cloud so zu nutzen, dass wir allen bekannten Paradigmen der Digitalisierung gerecht werden können. Es geht also nicht nur um die Cloud, sondern auch darum, wie ich die Services dort produziere und zur Verfügung stelle. Wenn man Digitalisierungsfortschritte möglichst schnell erzielen möchte, ist die Cloud einfach gegenüber anderen Produktionsinfrastrukturen das bessere Vehikel. Und wenn ich das noch in einer Cloud machen kann anstatt in dreien, handele ich mir deutlich weniger Komplexität ein, bin also noch schneller. Komplexität zu reduzieren oder gar nicht aufkommen zu lassen, ist in der digitalen Transformation ebenfalls wichtig, weil Komplexität alles langsamer macht.

Haben Sie sich deshalb für nur einen Cloud-Provider entschieden oder gibt es noch andere Gründe für die Single-Cloud-Strategie, die Covestro mit aws fährt?

Es gibt weitere Gründe: Mehrere Cloud-Provider bedeutet auch höhere Kosten. Wenn ich also von einem Cloud-Provider alles bekomme, was ich brauche, muss ich nicht zu einem zweiten gehen.


››Bei einer Single-Cloud-Strategie muss man auf ein paar Dinge besonders achten‹‹


Was ist mit dem berühmten Vendor-Lock-in?

Die Abhängigkeit ist nicht schlimmer als in einem Hosting-Paradigma, das wir gerade aufgegeben haben. Den Hoster der Rechenzentren in unserer Größenordnung wechseln Sie auch nicht mal eben so. Bei einer Single-Cloud-Strategie muss man allerdings auf ein paar Dinge besonders achten: Ein wichtiges Thema ist das Aufsetzen der Services als native Cloud Services und dabei aber trotzdem unnötiges Vendor-Lock-in zu vermeiden. Es ist aber auch die Vertragsgestaltung wichtig. Wenn Sie einen Dreijahresvertrag abgeschlossen und am Ende dieser Zeit auch Ihre Migration abgeschlossen haben, dann weiß auch der Provider, dass Sie jetzt nicht unbedingt den Provider wechseln wollen. Das schlägt sich sicher in den Bedingungen des Folgevertrags nieder. Wir haben einen Vertrag über fünf Jahre abgeschlossen und uns die Option der Verlängerung für weitere fünf Jahre mit garantierten Rabattstaffeln gesichert. Bisher haben wir nur gute Erfahrungen gemacht und ich sehe nicht mehr Lock-in als in anderen Beschaffungsparadigmen.

Aber wirklich alles machen Sie auch nicht mit aws. High Performance Computing (HPC) und Quantencomputing machen Sie mit Google. Wieso?

Beim Quantencomputing ist der Forschungsfortschritt der wesentliche Treiber. Der setzt sich, vereinfacht ausgedrückt, zusammen aus den Hardware-Architekturen der Partner und unseren Algorithmen, mit denen wir darauf rechnen. Und da ist Google für unsere Zwecke sehr gut unterwegs. Aber wir arbeiten in dem Bereich durchaus auch mit aws. Im HPC-Segment unterhalten wir ein On-premise HPC-Center und sind gerade dabei, das um Cloud-HPC zu erweitern. Damit können wir künftig entscheiden, ob wir mit einer geeigneten HPC-Workload an das On-prem Center gehen oder in die aws-Cloud. Übrigens, ich rede hier immer von aws, weil wir von Covestro uns dafür entschieden haben, aber eine Single-Cloud-Strategie kann man auch mit den anderen Hyperscalern realisieren.

Abb. 1: Der Standort von der Covestro AG in Leverkusen

Was machen Sie im Bereich Quantencomputing?

Für die Chemie sind solche Möglichkeiten immer dann interessant, wenn wir Chemie im Computer machen wollen. Das geht vom Verhalten von Stoffen im subatomaren Bereich bis zum Verhalten eines hoch performanten Kunststoffes in der Anwendung. Diese ganze Strecke zu simulieren, braucht Rechenpower ohne Ende. Ein weiteres Beispiel ist die Simulation chemischer Reaktionen. Das würde noch einmal eine enorme Entwicklungsbeschleunigung bringen.


››Wir haben die Migration genutzt, um einmal komplett aufzuräumen‹‹


Zurück zur Cloud. Welche Applikationen haben Sie wie in die Cloud gebracht. Kürzlich haben Sie in einem Vortrag im VOICE CIO-Erfahrungsaustausch betont, dass praktisch keine der migrierten Applikationen per Lift and Shift übertragen, sondern jede für sich für die Cloud adaptiert wurde.

Wir hatten vier auf der ganzen Welt verteilte Rechenzentren als Ausgangsbasis. Insgesamt sprechen wir von rund 140 Applikationen im SAP-Umfeld und 560 im Non-SAP-Bereich. Die haben wir komplett in die Cloud migriert. Wir hatten auch noch SharePoint on premise. Doch das ganze Kollaborationsthema haben wir über M 365 eingefangen. Das gehört also nicht zu unserem aws-Cloud-Umfang, sondern liegt in der Microsoft Cloud.

Wir haben die gesamte Migration genutzt, um einmal komplett aufzuräumen. Wir haben uns deshalb auch etwas mehr Zeit genommen und etwas mehr Geld ausgegeben. Unser Fokus war, alles in der Cloud zu haben, was wir benötigen, und zwar so weit wie möglich optimiert für die Cloud und – ganz wichtig – hochgradig automatisiert. Wir haben die Applikationen also einzeln angefasst, renoviert und auf einen Stand gebracht, dass wir sie jetzt sehr gut in der Cloud betreiben können. Im Zuge der Umstellung haben wir allerdings auch viele Applikationen abgeschaltet, die nicht mehr gebraucht wurden. Im Nicht-SAP-Umfeld haben wir es geschafft, rund 25 Prozent der Applikationen nicht zu migrieren. Wir haben außerdem darauf geachtet, dass auch die finanzielle Performance der Applikationen für uns passt. Diese Chance hat man in der Cloud, man muss diese Möglichkeit allerdings auch wahrnehmen. Insgesamt also eine sehr gute Basis, um die Digitale Transformation beschleunigt zu ermöglichen.

Sie haben gut drei Jahre für die Migration gebraucht. Das hat auch deshalb so lange gedauert, weil Sie unterwegs die Methode gewechselt haben. Wie kam es dazu?

Wenn man wie wir aus einem Hosting-Modell kommt, in dem Sie im Wesentlichen die Demands an den Hosting-Partner weitergegeben haben, stellt die Cloud, in der Sie die Services selbst konfigurieren und betreiben, durchaus eine große Herausforderung dar. Wir mussten sehr schnell viel lernen. Deshalb haben wir mit viel Mut, aber am Anfang wenig Wissen viel externes Know-how eingekauft und uns um die 5 bis 7 Rs der Cloud-Migration – von Repurchase bis Retire – geschart. Nach den ersten Testmigrationen, die nicht die gewünschten Ergebnisse gebracht hatten, haben wir die 7 Rs fallen gelassen und sind einem Weg gefolgt, den Kollegen aus unserer Mitte entwickelt haben. Das hatte zur Folge, dass wir mitten im Projekt die Methode, Tools und Dienstleister gewechselt haben. Und das hat dann so gut geklappt, dass wir nicht nur alles wieder aufgeholt haben, sondern besser abschließen konnten als vorgesehen. Wir waren schneller fertig mit der Migration und sie war kostengünstiger als ursprünglich geplant.


››Ich empfehle dringend, bei der Digitalisierung auf die Cloud zu setzen‹‹


Sie definieren die Migration in die Cloud als Voraussetzung für die Digitalisierung. Heißt das im Umkehrschluss, dass man ohne Cloud nicht in die digitale Welt reisen kann?

Ganz so stringent würde ich das nicht sehen. Aber aufgrund meiner Erfahrungen als CIO in diversen Jobs empfehle ich dringend, auf die Cloud zu setzen. Allerdings muss man den Umstieg auch richtig machen, sonst bringt das wenig. Richtig heißt nicht pseudo-veredeln und zum Beispiel Management-Schichten einzuziehen, die es in der Cloud nicht braucht, die aber dazu führen, dass die Delivery nicht schneller ist als vorher. Dann gewinne ich weder an Flexibilität noch an Agilität und Geschwindigkeit.

Was meinen Sie mit Pseudo-Veredelung der Cloud?

Ich benutze ein sehr einfaches Beispiel, um das zu verdeutlichen. Wenn früher ein Business-Kollege zur IT kam und einen zusätzlichen Server benötigte, haben wir den beim Hoster bestellt und nach einigen Monaten stand der zur Verfügung. In der Cloud dauert das (je nach Komplexität der benötigten Ressource) im Bereich von wenigen Sekunden. Wenn ich das aber wieder über einen Dienstleister inklusive unnötiger Prozesse und Governance mache, dauert das wieder länger und ist deutlich teurer. Das braucht es nicht. Wir haben das so gemacht, dass wir unseren IT-, Digitalund Business-Kollegen für ihre verschiedenen Bedürfnisse Plattformen anbieten – zum Beispiel eine Analytics-Plattform oder eine VR/AR-Plattform –, auf der sie arbeiten können. Damit fallen Flaschenhälse einfach weg, die in der Delivery entstehen, wenn viele Köche mitmischen. Natürlich muss man dafür zunächst die Skills bei den Mitarbeitenden aufbauen, aber wir sind heute um Größenordnungen schneller als im Hosting-Paradigma.

Das Interview führte Christoph Witte, E-Mail: cwitte@wittcomm.de, Bilder: Covestro AG

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Christoph Witte

Chefredakteur IT Spektrum und BI-Spektrum
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Christoph Witte ist Gründer der Wittcomm Agentur für IT, Publishing und Kommunikation. Darüber hinaus ist er Chefredakteur von IT Spektrum sowie BI-Spektrum und wirkt zudem bei dem Magazin JavaSPEKTRUM mit.


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