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Der Mindset ist entscheidend

Klassische Ansätze in der Softwareentwicklung kommen an ihre Grenzen. Die Komplexität der Anforderungen ist nicht mehr effizient zu managen. Neue Methoden müssen etabliert und alte Denkmuster aufgebrochen werden. Viele Unternehmen begeben sich deshalb auf eine „Agile Journey“. Diese dauert lange, ist nicht ohne Sackgassen, und oft ist erst mal völlig unklar, von wo aus man startet und wo es überhaupt hingehen soll. Beste Voraussetzungen also, um mit leerer Reisekasse im Nirgendwo anzukommen. Vielleicht hilft ja der folgende Reisebericht, die eine oder andere Klippe zu umschiffen. Fragen, Ergänzungen und Feedback sind explizit erwünscht!

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Ralph Wuehler

Leiter Business Intelligence IT


  • 22.08.2019
  • Lesezeit: 10 Minuten
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Die Bausparkasse Schwäbisch Hall (BSH) ist mit ca. 30 Prozent Marktanteil die größte Bausparkasse Deutschlands und einer der größten Baufinanzierer mit mehr als 10 Millionen Kunden im In- und Ausland. Ihre Produkte vertreibt die BSH über ihren Außendienst mit knapp 3.200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie über die 900 Banken der genossenschaftlichen Finanzgruppe. Im Innendienst der Bausparkasse arbeiten aktuell ca. 3.100 Beschäftigte, davon ca. 500 in der IT. Die IT-Funktion teilt sich in die Bereiche „IT-Betrieb“ und „IT-Lösungen und Projekte“ sowie „IT-Steuerung“ auf. Die beiden erstgenannten Einheiten gehören zur Schwäbisch Hall Kreditservice GmbH (SHK), einer 100-Prozent-Tochter der Bausparkasse Schwäbisch Hall, und sind verantwortlich für die Umsetzung sowie den Betrieb der IT-Lösungen. Der Bereich „IT-Steuerung“ ist in der Muttergesellschaft verankert.

In der Softwareentwicklung und -integration kommen in der BSH seit vielen Jahren neben klassischen auch iterativ-inkrementelle Methoden zum Einsatz. Die VUCA-Welt mit Niedrigzinssituation, komplexen regulatorischen Anforderungen sowie neuen, schnell agierenden und kaum regulierten Marktteilnehmern brachte viele Finanzdienstleister dazu, ihre Geschäftsmodelle zu überarbeiten. Man hatte die Wahl, abzuwarten, was passiert, oder die Organisation so auszurichten, dass schnell und effizient auf neue Rahmenbedingungen und komplexe Anforderungen reagiert werden kann. Da es das klare Ziel der Bausparkasse ist, am Markt der Finanzdienstleister auf Angriff zu spielen, war Abwarten nicht wirklich eine Alternative. Man machte sich also auf den Weg – wenngleich die erste Reisegruppe noch den Charakter eines Voraustrupps hatte.

Abb. 1: Die IT-Organisation der Schwäbisch Hall Gruppe (Quelle: alle Illustrationen aus „Agile Journey der Bausparkasse Schwäbisch Hall“, Schwäbisch Hall Kreditservice GmbH, 2019)

Abb. 2: Volatile, Uncertain, Complex, Ambigiuous – vor allem die Komplexität der Anforderungen erfordert neue Vorgehensweisen

Vor dem Antritt einer Reise steht die Vorbereitung

Laut einer aktuellen Lünendonk-Studie [Lün19] kommen agile Vorgehensmodelle vor allem in Themenbereichen zum Einsatz, die stark durch neue Technologien beeinflusst werden und einen kundenzentrischen Charakter haben, also beispielsweise bei der App- und Web-Entwicklung. Interessanterweise waren es in der Bausparkasse Schwäbisch Hall die Bereiche der Unternehmenssteuerung wie das Risikocontrolling und das Rechnungswesen, die ihr Vorgehen mit als Erste gemeinsam mit dem zuständigen IT-Bereich bewusst und konsequent auf die geänderten Rahmenbedingungen angepasst haben.

Ein Hauptgrund hierfür war die Komplexität aufsichtsrechtlicher Anforderungen. Die gelieferten IT-Lösungen mussten häufig über viele Monate in Produktion nachgeschärft werden. Die komplexen Anforderungen, mit denen sich die oben genannten Bereiche auseinanderzusetzen hatten, ließen sich mit klassischen Methoden nicht mehr effizient und zeitnah umsetzen. Mit dem Aufbau einer integrierten Finanzarchitektur als zentrale Datenbasis wurde bereits 2014 die Grundlage für ein agiles Projektvorgehen gelegt.

Abb. 3: Aus der dispositiven Systemlandschaft der BSH werden beispielsweise Informationen für den Vertriebsaußendienst bereitgestellt: Die Unternehmenssteuerungsbereiche werden mit den für die Erfüllung aufsichtsrechtlicher Anforderungen benötigten Daten versorgt

Abfahrt: Prototypische Anpassung des Vorgehens

Die Grundidee hinter dem neuen Vorgehen war simpel. Ein Entwickler aus der IT sitzt mit einem Mitarbeiter des Fachbereichs in einem Raum zusammen. Der Entwickler erstellt auf Basis einer groben Spezifikation ein erstes Ergebnis, zeigt dieses zum Beispiel in Form eines Berichts dem Endanwender, dieser gibt Feedback, der Entwickler passt die Lösung entsprechend an, stellt diese erneut dem Fachbereichsmitarbeiter vor etc.

Die Kommunikation und die Zusammenarbeit innerhalb des Teams verbesserten sich durch das neue Vorgehen deutlich. Außerdem wurden schneller erste Resultate geliefert und damit auch ein erster Nutzen generiert. Ergebnisse – wie verschiedene Reporting-Lösungen für das Rechnungswesen – wurden zeitnah sichtbar: Die Beteiligten diskutierten nicht mehr, ob eine Lösung umgesetzt, sondern wie diese ausgestaltet werden sollte. Das heißt, es wird entlang des „Produkts“ festgelegt, welche Features wann ergänzt werden sollen.
Außerdem war bereits spürbar, dass sich ein neuer Mindset einstellte. Das Team sah sich unabhängig von der aufbauorganisatorischen Herkunft als eine Einheit. Aufgrund der positiven Erfahrungen entschieden sich IT und die Fachbereiche der Unternehmenssteuerung, gemeinsam fünf weitere agile Solution-Teams zu etablieren.

Abb. 4: 2015 – ein erstes, bereits cross-funktional besetztes Team arbeitet nach einer Scrum-ähnlichen Methode, wobei JIRA unterstützend als Tool eingesetzt wird

Die Reisegruppe wächst

Arbeiten mehrere Teams gleichzeitig an Themen, die inhaltlich voneinander abhängen, oder bestehen Abhängigkeiten bezüglich der eingesetzten Ressourcen, stellt sich unweigerlich die Frage nach einer Programmsteuerung. Hierfür orientiert sich die Bausparkasse Schwäbisch Hall seit 2017 am Scaled Agile Framework oder kurz SAFe [Mat16]. Für die kontrollierte Bottom-up-Adaption des Frameworks wurden interne Mitarbeiter geschult und externe Coaches hinzugezogen – ein rückblickend betrachtet wichtiger Erfolgsfaktor für die Transformation. Begibt man sich auf Neuland, sind Menschen, die einem den Weg weisen können, durchaus hilfreich.

Ein zentrales Element des SAFe-Modells ist das PI-Planning (Program Increment Planning). Im Rahmen dieser Runde blickt das gesamte Team auf die vergangenen zehn Wochen zurück und plant gemeinsam die Ergebnisse der nächsten zehn Wochen. Am Ende der zweitägigen Planungs-Session steht das Confidence Vote, mit dem sich die Mitarbeiter zu den Ergebnissen committen. Bestehen Zweifel an der Erreichbarkeit der nächsten Etappenziele, werden diese besprochen. Werden Hindernisse identifiziert, unterstützen Scrum Master oder Release Train Engineers und schützen die Teams so vor externen Einflüssen [Pic08], damit diese auf die Weiterentwicklung ihres Produkts fokussieren können.

Ein weiterer Baustein des SAFe-Frameworks ist das sogenannte „Inspect & Adapt“. Teammitglieder treffen sich am Ende eines Programm-Inkrements und berichten, was in den vergangenen zehn Wochen gut lief und was man als Team zukünftig anders machen möchte. Das Format des Inspect & Adapt möchte das Team in jedem Fall beibehalten – nebenbei ein sehr gutes Beispiel für den Kulturwandel. Die im Haus bereits bestehende Fehlerkultur wird durch das Format konsequent weiterentwickelt.

Abb. 5: 2016 – mehrere agile Solution-Teams setzen parallel die Themen der Unternehmenssteuerung um; Abhängigkeiten unter anderem bezüglich Inhalt und Ressourcen erfordern eine Programmsteuerung

„Wenn einer eine Reise tut …“

Ein Zwischenfazit bezüglich ihrer bisherigen „Agile Journey“ hat die Bausparkasse im April 2019 im Rahmen eines Self-Assessments gezogen. In einer Interviewreihe wurden wesentliche Stakeholder und Keyplayer bezüglich des Status und der Wirksamkeit des agilen Vorgehens befragt. Einige der Kernaussagen aus der durchgeführten Umfrage lauteten:

  • „Wir haben die Transparenz verbessert.“
  • „Wir brauchen noch radikalere Ansätze.“
  • „Wir müssen weiter an unserem agilen Mindset arbeiten.“
  • „Wir arbeiten besser zusammen, brauchen aber noch mehr Fokus.“
  • „Wir liefern schneller Nutzen.“
  • „Wir wollen als ein Team arbeiten.“
  • „Wir haben mehr ‚Zug‘ reinbekommen.“
  • „Wir müssen aber insgesamt noch schneller werden.“

In Summe wurde konstatiert, dass „Agile“ an vielen Stellen besser funktioniert und dort konsequent eingesetzt werden soll, wo es hilft. Es wurde also bereits sehr viel erreicht – man ist sich aber auch bewusst, dass die Reise noch einige Zeit andauern wird. Eine agile Transformation ist also eher mit einer Weltreise als einem Städtetrip vergleichbar.

Wie bei jeder Reise gibt es auch Dinge, die man unbedingt machen sollte. Rückblickend lassen sich fünf wichtige ToDo’s einer agilen Transformation festhalten:

  1. Sich auf die Reise machen: Auch wenn das „agile big picture“ vielleicht noch in Arbeit ist, sollte man losgehen. Erfolgreich agil umgesetzte Leuchtturmprojekte helfen in der Argumentation und liefern außerdem schnell echten Nutzen. Weiter lassen sie die Teams Erfahrungen in Methodik und Zusammenarbeit sammeln.

  2. Die Reise vorbereiten: Allen Beteiligten auf Führungs- und Fachebene muss zunächst transparent sein, warum man sich überhaupt auf den Weg machen muss („Was ist eigentlich das Problem?“). Es muss außerdem geklärt werden, was unter „agil“ verstanden wird und warum man an welcher Stelle der Organisation wie „agil“ werden möchte.

  3. Das Tal der Tränen durchqueren: Die Veränderung eines Systems führt meist zunächst zu einer Verschlechterung der Effizienz. Dieser Effekt muss dem Management und dem Team bewusst sein. Hier gilt es durchzuhalten und gegebenenfalls konstruktiv mit Widerständen und Unsicherheiten umzugehen.

  4. Die Reisegruppe sich selbst organisieren lassen: Die primäre Aufgabe des Managements verändert sich. Sie besteht darin, die Zusammenarbeit und die Selbstverwaltung der Teammitglieder zu unterstützen und Hindernisse aus dem Weg zu räumen [Hof16]. Ein Manager wird auch in einer agilen Organisation Strukturen schaffen, mit denen das Unternehmen seine Aufgaben bewältigen kann. Das Führen selbst wird eine größere Herausforderung werden [GlR14].

  5. Die Reisegruppe „richtig“ zusammensetzen: Vor allem die Softskills eines Teams sind essenziell wichtig, wollen diese entlang agiler Werte wie Offenheit, Mut und Respekt arbeiten [Now16]. Damit ändern sich auch die Anforderungen an das Personal-Recruiting und die Personalentwicklung. Aber auch die eingesetzte Methodik, das Framework, an dem man sich gegebenenfalls orientiert, und die genutzten Tools müssen die Teammitglieder kennen.

Abb. 8 und 9: Inspect & Adapt: Diskussion aktueller Painpoints im Fishbowl-Format (Foto: Bausparkasse Schwäbisch Hall Gruppe)

Weiter geht’s: Die nächsten Reiseziele

Agile Methoden, Frameworks und Praktiken sind in der Softwareentwicklung der Bausparkasse Schwäbisch Hall bereits fest etabliert. Es wird nach Scrum entwickelt, Rollen, Gremien und Prozesse wurden entlang des SAFe-Frameworks etabliert. Die Teams führen Retros, Sprintplanungen und Sprintreviews konsequent durch. Diese Methoden und Praktiken gilt es im Rahmen eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses sukzessive zu optimieren. Coaches und Trainer werden die Teams hierbei unterstützen.
Der Schwerpunkt der agilen Transformation wird in den nächsten Monaten auf der Verstetigung der agilen Werte und Prinzipien liegen. Ziel ist es, noch fokussierter, noch transparenter, noch selbstorganisierter zu arbeiten und die Endanwender noch stärker in die Teams einzubinden.

Abb. 10: Die Dimensionen der Agilität – Praktiken, Methoden und Tools sind so weit etabliert

Um dies zu erreichen, werden die Teams räumlich und inhaltlich näher zusammengeführt, als dies bisher schon der Fall war. Die Grenzen zwischen Fachbereich und IT sollen noch weiter aufgelöst werden. Einzelne Teams werden hierzu im neuen Lab31 der Bausparkasse arbeiten. Dabei handelt es sich um einen geschützten Raum, der mit wenig Mitteln, aber dafür großem Engagement einiger interner Mitarbeiter in den vorhandenen Büroräumen der Bausparkasse eingerichtet wurde. Interdisziplinär aufgestellte Teams arbeiten dort mittlerweile konzentriert an konkreten Problemstellungen. Die Mitarbeiter werden dort auch neue Arbeitsmethoden erlernen und ihre Erfahrungen dann als Multiplikatoren in das Gesamtunternehmen tragen.

Die Bausparkasse wird den eingeschlagenen Weg der Agilisierung konsequent und kontrolliert weitergehen. Begonnen hat die Reise in zwei Bereichen des Hauses und wird nun mit Augenmaß da fortgesetzt, wo es Nutzen stiftet.

Interdisziplinär aufgestellte Teams werden fokussiert spannende und wichtige Themen umsetzen. Die Agilisierung geht hierbei Hand in Hand mit der Digitalisierung des Unternehmens und dient als Enabler für die Umsetzung strategischer Inhalte. Letztendlich sind agile Ansätze für das Haus Mittel zum Zweck. Ein wichtiger Nebeneffekt hat die Umstellung auf die agile Arbeitsweise allerdings noch: Die Arbeit an spannenden Themen in einem kreativen Umfeld macht Spaß – und das Unternehmen somit für seine Mitarbeiter zu einem sehr attraktiven Arbeitgeber.

Abb. 11: Das Anfang 2019 eröffnete „Lab31“– 31 in Anlehnung an das Gründungsjahr der Bausparkasse Schwäbisch Hall (Fotos: Bausparkasse Schwäbisch Hall Gruppe)

Literatur

[GlR14]
Gloger, B. / Rösner, D.: Selbstorganisation braucht Führung. 2014

[Hof16]
Hofert, S.: Agiler führen. 2016

[Lün19]
Lünendonk-Studie 2019: Scalable Agility – Von der agilen zur digitalen Transformation. 2019

[Mat16]
Mathis, C.: SAFe – Das Scaled Agile Framework. 2016

[Now16]
Nowotny, V.: Agile Unternehmen. 2016

[Pic08]
Pichler, R.: Scrum – Agiles Projektmanagement erfolgreich einsetzen. 2008

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Ralph Wuehler

Leiter Business Intelligence IT
Zu Inhalten

Ralph Wühler,ahrgang 1968, leitet die Abteilung Business Intelligence IT in der Schwäbisch Hall Kreditservice GmbH (SHK), einer 100-Prozent-Tochter der Bausparkasse Schwäbisch Hall (BSH). Nebenberuflich ist er als Referent und Autor tätig. Seit 2015 arbeitet er gemeinsam mit den Kollegen aus den Fachbereichen an der agilen Transformation in dem von ihm mitverantworteten Themencluster „Business Intelligence / Unternehmenssteuerung“.


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