Das Wissensportal für IT-Professionals. Entdecke die Tiefe und Breite unseres IT-Contents in exklusiven Themenchannels und Magazinmarken.

heise conferences GmbH

(vormals SIGS DATACOM GmbH)

Lindlaustraße 2c, 53842 Troisdorf

Tel: +49 (0)2241/2341-100

kundenservice@sigs-datacom.de

Denkst du noch? Oder glaubst du schon?

Was einmal als technische Innovation begann, wird zunehmend zur Ersatzreligion: mit Erlösungsfantasien, Propheten, Sakramenten und unantastbaren Dogmen ersetzt der KI-Kult kritisches Denken durch blinden Glauben. Maschinen als Heilsbringer. Am Anfang war das Wort – und das Modell hat es vorhergesagt. Doch aktuelle Forschung zeigt: Diese „Intelligenz“ ist weder besonders intelligent noch besonders belastbar. Höchste Zeit für eine digitale Reformation.

Author Image
Dr. Stefan Wess

Geschäftsleitung, Gründer & Chief Strategy Officer


  • 06.08.2025
  • Lesezeit: 3 Minuten
  • 155 Views

Vor ein paar Tagen sprach ich mit einem bekannten KI-Entwickler über die Möglichkeit einer Superintelligenz. Eigentlich hatte ich ein technisches Gespräch erwartet – mit Daten, Argumenten, vielleicht etwas Skepsis. Stattdessen bekam ich ein einstündiges Glaubensbekenntnis zu hören. Ich wartete nur noch darauf, dass er eine Bibel zückte – oder besser: ein iPad mit dem Evangelium nach OpenAI. Tatsächlich hat die Debatte um künstliche Intelligenz längst religiöse Züge angenommen. Es gibt Propheten, Erlösungsversprechen und ein nahendes Weltuntergangsszenario. Natürlich „in den nächsten fünf bis zehn Jahren“. Natürlich „unumkehrbar“. Und selbstverständlich „nur von Eingeweihten wirklich verstanden“. Gott ist tot, der Server lebt. Statt selbst zu denken, glauben wir – und nennen es dann auch noch Fortschritt.

„KI wird zur modernen Ersatzreligion“

So wird KI zur modernen Ersatzreligion. Wer sich dem KI-Kult nicht anschließt, gilt schnell als rückständig und technologiefeindlich. In sozialen Medien und auf Konferenzen ist dies heute fast schon ein Todesurteil. Dabei bräuchten wir gerade jetzt: Häresie! Skepsis! Aufklärung! Denn während die KI-Evangelisten von einer neuen Ära des Denkens schwärmen, liefern uns Apple-Forscher eine ernüchternde Diagnose: Die angeblich „denkenden“ Modelle tun vor allem eins – sie raten. Und zwar schlecht. Sobald ein Problem etwas komplexer wird – etwa beim Tower of Hanoi oder simplen Planungsaufgaben – bricht die Leistung moderner KI-Modelle vollständig zusammen.

Und schlimmer noch: Die Modelle geben auf, bevor sie wirklich anfangen. Weniger „Reasoning“ bei höherer Schwierigkeit. Das ist nicht Intelligenz, das ist Fluchtverhalten auf Basis statistischer Erschöpfung. Überraschung: Diese Systeme tun nicht mehr, als Muster zu erkennen und Wahrscheinlichkeiten zu berechnen. Kein Verständnis, keine Absicht, kein Ziel. Sie sind wie Schüler, die die Klausur des Vorjahres auswendig gelernt haben – solange dieselben Fragen kommen, wirken sie wirklich brillant. Doch wehe, jemand fragt mal was Neues. Ein Schachprogramm auf einem ATARI 2600 Computer aus dem Jahr 1977 schlägt daher heute noch alle hochgezüchteten KI-Systeme.

Was also tun wir da gerade eigentlich? Wir hängen unser Heil an Maschinen, die bei echten „Denkaufgaben“ früher schlappmachen als der schwächste Praktikant. Und statt nüchtern ihre Fähigkeiten und Grenzen zu evaluieren, errichten wir ein Glaubenssystem um sie herum. Mit Hohepriestern, Sakramenten und einer Apokalypse, die in wenigen Jahren angeblich bevorsteht. Klingt absurd? Willkommen im aktuellen KI-Kult.

„Häresie! Skepsis! Aufklärung!“

Natürlich könnten wir stattdessen fragen: Wo hilft KI tatsächlich? Wo liegen ihre Schwächen? Welche Probleme löst sie – ganz ohne metaphysische Überhöhung? Doch das wäre mühsam. Und es wäre kein Glaube mehr, sondern harte Realität. Viel Arbeit und wenig Wunder. Da glaubt man doch lieber an den heiligen Algorithmus, der im Datenrausch alles besser weiß. Und baut die Rechenzentren gleich zu neuen Kathedralen aus.

Die eigentliche Gefahr liegt also nicht in der KI selbst, sondern in unserem Umgang mit ihr. In der Tatsache, dass wir alle lieber glauben als denken, lieber behaupten als prüfen. Und damit genau das Gegenteil tun von dem, was eine aufgeklärte Gesellschaft eigentlich auszeichnen sollte. Oder, um es im Jargon der neuen Sekte zu sagen: Die künstliche Intelligenz ist zwar groß – aber ihre Gemeinde ist erschreckend leichtgläubig geworden. Amen.

. . .

Author Image

Dr. Stefan Wess

Geschäftsleitung, Gründer & Chief Strategy Officer
Zu Inhalten

Dr. Stefan Wess ist geschäftsführender Gesellschafter der Aturas GmbH, anerkannter Hightech-Experte und ein echter KI-Pionier. Er war viele Jahre Mitglied im Aufsichtsrat des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI) und Kurator der Fraunhofer-Gesellschaft. Aktuell ist er Mitglied im Rat für Technologie des Landes Rheinland-Pfalz und im Wirtschaftsrat der Gesellschaft für Informatik (GI).


Artikel teilen