Johannes Mainusch: Hallo Stefan Roock. Ich mach das jetzt wie Markus Völter in seinem Podcast – stell dich doch den Lesern selbst vor. Wer bist du eigentlich?
Stefan Roock: Wo soll ich anfangen …? Ursprünglich Informatiker, an der Uni Hamburg studiert, da sehr schnell auf agile Abwege gekommen und auf Extreme Programming, dann in verschiedenen Firmen und verschiedenen Kontexten gearbeitet und 2005 mit ein paar Kollegen zusammen it-agile gegründet. Damals gab es bei den Kollegen noch nichts zu gendern – wir waren nur Männer. Das hat sich inzwischen zum Glück geändert. Mit der Zeit fanden unsere Kunden es nützlicher, wenn ich sie berate und nicht mehr für sie programmiere. So bin ich in den Bereich Agile-Coaching mit Spezialisierung auf Transition-Leadership und Produkt-Ownership reingeschlittert.
„Ohne Hierarchie geht es nicht”
Als ich dich um 2008 kennenlernte, war das auf einem Kanban-Event mit David Anderson. Damals hatte ich das Gefühl, du warst noch ein bisschen Programmierer im Herzen. Oder warst du schon vollständig zum Coach mutiert?
Zu der Zeit habe ich noch beides gemacht, und ich habe auch sehr lange gebraucht, um die Programmierung für mich loszulassen. Es gab so eine Zeit von etwa drei Jahren, in denen ich zwar nicht mehr für Kunden programmiert habe, dann aber abends zu Hause. Ich habe Code-Katas gemacht und so zum Beispiel Clojure gelernt. Das hat mir wahnsinnig viel Spaß gemacht. Aber eines Tages musste ich akzeptieren, dass mich das zerreißt. Ich kann nicht auf jeder Hochzeit tanzen, und dann gibt es ja noch ein Privatleben mit der Familie. So habe ich die Programmierung schweren Herzens drangegeben. Es gab aber dann vor einiger Zeit noch mal ein kurzes Aufblitzen, als ich bei uns im Vertrieb mitarbeitete. Da hatte ich die Idee, dass man mit statistischen Verfahren unsere Auftragseingänge vorhersagen kann, damit wir mehr Sicherheit für die Zukunft bekommen. Dazu habe ich abends mit einer diebischen Freude ein Clojure-Programm geschrieben, das eine Simulation durchführt. Das hat unfassbar viel Spaß gemacht. Dummerweise kam bei den Simulationen immer das Gleiche raus, und dann ist mir aufgegangen, dass man kein Programm dafür benötigt. Weil es so wenig Variablen gibt, kann man das einfach abzählen. Das war dann ein wenig ernüchternd.
Die Idee war, das Programm sagt mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorher, in welcher Frequenz und in welcher Höhe bei euch Aufträge in die Firma kommen?
Genau. Faktisch ist es aber mehr oder weniger konstant und einigermaßen vorhersagbar. Alle paar Monate gibt es einen deutlichen Peak nach oben, weil wir dann einen Riesenauftrag gewinnen. Dazu benötigen wir aber am Ende kein Simulationsprogramm.
Es brennt in dir immer noch das Feuer des Nerds, das finde ich sehr charmant. Ich würde aber gerne noch mal zurückgehen auf das Gründungsjahr eurer Firma, auf 2005. Mit wie vielen habt ihr denn gegründet? Warum habt ihr das gemacht und welche Idee hat euch geleitet?
Wir hatten mit Agilität in Form von Extreme Programming das erste Mal Kontakt. Das war 1999, also noch bevor Kent Beck das Buch dazu veröffentlicht hat. Davon waren wir vollkommen angefixt und haben in der Firma, in der wir damals gearbeitet haben, Entwicklungen nach Extreme Programming gemacht. Später kam dann auch Scrum dazu. Um nicht nur die Entwicklung agil zu gestalten, sondern ein ganzes Unternehmen agil und demokratisch, haben wir it-agile gegründet.
Funktioniert Demokratie gut mit 45 bis 50 Leuten?
Ja, ich möchte aber auch nicht verschweigen, dass das seit über 15 Jahren ein durchgängiges Lernen ist über das sprichwörtliche Blut, Schweiß und Tränen. Damals gab es noch keine Bücher wie „Reinventing Organisations”, daher haben wir alles Mögliche selbst ausprobiert. Und das meiste davon hat nicht funktioniert. Bis wir die Lösungen gefunden haben, die heute für uns funktionieren, hat es teilweise sehr lange gedauert. Das war in Teilen auch sehr frustrierend.
Das heißt, ihr habt agil euren Weg in die demokratischere Unternehmensform gefunden, mit Trial-and-Error …
Genau, und auch über Aktionen, die wir keinem Kunden empfehlen würden, weil nicht jedes Experiment, das wir gemacht haben, safe-to-fail war. Es gab schon die eine oder andere Situation, in der es etwas heikel wurde.
Braucht ihr mehr Zeit und Energie intern als eine normale Beratung, die jetzt einfach zum Kunden geht?
Ich glaube, heute nicht mehr. Aber wir hatten solche Zeiten, in denen wir auch durch fehlende Strukturen viel zu lange Entscheidungsprozesse hatten. Wo zum Beispiel unklar war, wer was entscheiden darf, und immer alle möglichen Leute gehört werden mussten. Wir hatten mal eine Phase, in der wir fast paralysiert waren. Als sich fast gar nichts mehr bewegte, da waren wir bei dem Punkt Blut, Schweiß und Tränen. Sich da wieder herauszuarbeiten, war ein ganz schön dickes Brett.
„Hierarchie impliziert aber nicht formelle Macht”
Was habt ihr denn aus dieser Phase gelernt?
Ich glaube, ein Kernelement, das wir gelernt haben, ist, dass es bei 30 oder mehr Leuten ohne Hierarchie nicht geht. Denn man kann nicht jedes Thema mit so vielen diskutieren. Hierarchie impliziert aber nicht formelle Macht. Unser Unternehmen braucht nicht jemanden auf festen Positionen, sondern wir lösen das über flexible Rollen. Wenn ich eine Weile in einer Rolle arbeite, bin ich in dieser Zeit für den Bereich entscheidungsbefugt. Und dann gibt es einen Turnus, um da herauszurotieren. Es gibt bei uns wenige Leute, die zu 100 Prozent in so einer Rolle arbeiten, die meisten sind gleichzeitig noch Berater. Ich habe beispielsweise die Hälfte meiner Zeit im Vertrieb mitgearbeitet, die andere Hälfte der Zeit habe ich geschult und beraten. Über dieser Art der Hierarchie können wir schnell entscheiden, ohne dass die Dysfunktionen entstehen, die häufig in klassischen Machthierarchien entstehen. Wir sind auch flexibler, denn wenn wir etwas an dieser Struktur verändern wollen, benötigen wir keine Reorganisation. In unseren Arbeitsverträgen steht bei jedem Mitarbeiter als Rollenoder Stellenbezeichnung „Mitarbeiter”, und je nachdem, was das Unternehmen braucht, passen wir unsere Rollen an.
„Wir sind vor ein paar Jahren in ein Rotationsprinzip auch für die Geschäftsführung eingestiegen”
Früher warst du einer der beiden CEOs, heute nicht mehr?
Ja, das hängt mit einer weiteren Besonderheit von it-agile zusammen. Bei uns gehört der Großteil der Firma den Mitarbeitenden, vermittelt über eine Mitarbeiterbeteiligungsgesellschaft. Das bedeutet, dass die Mitarbeitenden den Geschäftsführer (GF) beziehungsweise CEO einsetzen. Ursprünglich war das nur Henning (Wolf), später kam ich als zweiter Geschäftsführer dazu. Dann sind wir vor ein paar Jahren in ein Rotationsprinzip auch für die Geschäftsführung eingestiegen, mit dem Ziel, immer zwei Geschäftsführer zu haben, von denen alle zwei Jahre einer ausgetauscht wird. Und zu jedem Zeitpunkt gibt es zwei Geschäftsführungs-Auszubildende, die von den bestehenden Geschäftsführern auf das Amt vorbereitet werden. Etwas skurril mag erscheinen, dass wir so mehr Leute als Geschäftsführer ausbilden, als wir benötigen. Cool finden wir aber, dass wir so viele Leute haben, die Geschäftsführer sein können.
Abb. 1
Das heißt, dass ihr bei der Wahl des neuen GFs vorausschauend für die nächsten Jahre die Azubis schon mitwählt.
Genau, es bringt ja nichts, jemanden auszubilden, der hinterher nicht gewählt wird.
Ist es dir schwergefallen, die Rolle des CEO zu verlassen?
Nicht wirklich, denn wir haben ja fast 15 Jahre lang daran gearbeitet, klassische Geschäftsführungsaufgaben und -verantwortlichkeiten in die Firma zu delegieren. Am Anfang hat Henning sich um den Vertrieb gekümmert, hatte die Finanzen im Auge, die Jobs besetzt, die Gehaltsgespräche geführt, über Einstellungen und Entlassungen entschieden usw. Diese Aufgaben haben wir schrittweise dezentralisiert. Daher fanden ein Abnabelungsprozess und ein schrittweises Loslassen die ganze Zeit über statt. So war das Rausgehen aus der CEO-Rolle einfach, weil gar nicht mehr so viel Geschäftsführungstätigkeit da war.
Könntest du dir vorstellen, jemals wieder in einer Firma zu arbeiten, die mehr dem Durchschnitt entspricht?
Unsere Firma hat immer schon sehr viele Möglichkeiten zur Mitgestaltung angeboten, und darauf möchte ich nicht verzichten. Es müsste also entweder ein Bereich sein, in dem ich Narrenfreiheit habe oder wo ich von ganz oben diese Gestaltungsmöglichkeit hätte. Vorstand oder Geschäftsführer vielleicht, aber momentan fällt es mir schwer, mir vorzustellen, wie das gehen könnte.
Die vollständige Gestaltungsfreiheit hättest du ja nur dann, wenn du Besitzer dieser neuen Firma wärst …
Klar, und selbst dann könnte ich ja nicht allein einfach schalten und walten. Nehmen wir an, ich wäre der Besitzer der Telekom. Dort arbeiten zigtausende Menschen und wenn die keinen Bock haben auf das, was ich will, dann funktioniert das ja auch nicht. In jedem Fall braucht es Dialog und ich müsste Leadership aufbringen, um Leute mitzunehmen. Wenn aber schon das Korsett so eng ist, dass der Gestaltungswunsch alleine schon Widerstand erzeugt und ich dagegen arbeiten müsste, dann hätte ich wahrscheinlich sehr schnell keinen Bock darauf.
Was muss man denn tun, um viele Menschen in Bewegung zu setzen, um mit vielen etwas zu erreichen?
Ach, da fragst du was …
Wärest du Chef der Telekom, so könntest du ja einfach sagen: „Bewegt euch!”. Und dann machen die das, vielleicht, oder vielleicht auch nicht …
Dazu habe ich ein Zitat von Peter Drucker im Kopf: „Accept the fact that we have to treat almost anybody as a volunteer”. Wir können Mitarbeitende dazu zwingen, körperlich an ihrem Schreibtisch zu sitzen, aber wir können sie nicht dazu zwingen, ihr Gehirn zu benutzen. Einfach anzusagen, wir machen das jetzt, funktioniert aus meiner Erfahrung nur mäßig. Insofern sind wir da nun bei den Klassikern, es muss klar sein, dass es überhaupt einen Grund gibt, sich zu bewegen, also es gibt ein Problem, das wir lösen wollen, oder es gibt eine große Chance, die wir ergreifen wollen. Damit ist die Energie für die Bewegung da. Dann muss ich für die Richtung sorgen: In welcher Richtung suchen wir die Lösung? Bei agilen Transitionen in Firmen ist den meisten klar, dass es ein Problem gibt. Und oft gibt es Kräfte, die sagen, wir sollten das Problem dadurch lösen, dass wir das, was wir bisher getan haben, besser tun. Das steht dann im Konflikt mit dem Lösungsansatz, etwas ganz anderes zu tun, zum Beispiel agil arbeiten.
„Ich halte Klarheit für wichtig”
Das geübte Verhalten einer effizienten Organisation ist es, die Abläufe immer effizienter zu machen. Insofern kann man der Organisation ja nichts vorwerfen, sie macht das, was sie über Jahrzehnte gelernt hat, nämlich optimieren.
Ich habe mir in vielen Bereichen das Bewerten abgewöhnt. Dazu habe ich zu viele Sachen gesehen, die hätten funktionieren müssen, die dann doch nicht funktioniert haben. Und umgekehrt viele Sachen, die auf keinen Fall hätten funktionieren dürfen, die doch funktioniert haben. Es kann alles Mögliche funktionieren, man muss es nur durchziehen. Ich halte Klarheit für wichtig, also dass Unternehmen sich entscheiden, was sie wollen, und nicht rumeiern. Ich habe im Konzernkontext erlebt, wie erst die Ansage kam, die IT soll 100 Prozent agil arbeiten. Dann wurde das immer weiter verwässert, bis man irgendwann bei 20 bis 40 Prozent ankam. Dann bewegt sich vorerst nichts mehr, weil alle verwirrt waren, wie nun gearbeitet werden soll.
Ist es dann nicht so, dass so eine bottomup agile Transition in einem Unternehmen gar nicht gut funktionieren kann, weil die Klarheit von oben fehlt?
Das gehört vielleicht in die Kategorie von Dingen, die ich habe funktionieren sehen, die nicht hätten funktionieren dürfen.
Du hast also erlebt, dass tatsächlich eine Grassroots-Agilisierung eines Unternehmens funktioniert hat?
Ich kenne einen Fall aus einer Behörde, wo ein paar Leute gesagt haben, sie wollen jetzt agile entwickeln. Die haben dann Rollen wie Product Owner und Scrum Master informell untereinander ausgedealt. Und dann hat sich das immer weiter verbreitet, anfangs waren das zwei Teams, und jetzt ist das riesengroß geworden. Ich hatte von denen drei Leute in einem Leadership-Kurs. Als die ihre Geschichte erzählten, waren die anderen Teilnehmenden aus der Industrie richtig baff. Am Ende der Schulung hatten wir ein neues Bonmot: „In einer Behörde kann man das machen, aber in Wirtschaftsunternehmen ist das viel schwieriger!”
„Mein Wunsch wäre, dass wir die besten Teile aus Remote- und Präsenzarbeit zusammenbrächten”
Schau an, das ist lustig! Stefan, was wäre dein Wunsch an die gute Fee, mit Erfüllung in 365 Tagen?
Was ich tatsächlich für mich gern gut aufgelöst hätte, ist diese Präsenz-Remote-Geschichte. Ich finde, Präsenzdialoge, -workshops, -schulungen viel cooler, als das remote zu machen, gleichzeitig will ich nicht wie vor der Pandemie ständig durch die ganze Republik fahren. Mein Wunsch wäre, dass wir die besten Teile aus Remote- und Präsenzarbeit zusammenbrächten.
Stefan, vielen Dank für das Interview.
Stefan Roock:
Stefan Roock - einer der 10 Gründer von it-agile
51 Jahre alt, Experte für Leadership, agile Transitionen und Product-Ownership
Mag: Demokratie, Mountain-Biking, Agilität, Windsurfen, Elektro-Auto-fahren, Sushi
Mag nicht: Routine
Superkraft: Kann Zutrauen schaffen, dass das scheinbare Unmögliche möglich werden kann
Motto: „Man muss das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu erreichen.” Hermann Hesse