Christoph Witte: Welches sind die stärksten Veränderungen, die die breite Cloud-Nutzung für Anwenderunternehmen gebracht hat?
Dr. Jochen Malinowski: Ich möchte zunächst festhalten, dass in den letzten zwei Jahren das Thema Cloud noch einmal einen ordentlichen Schub bekommen hat. Die Unternehmen investieren verstärkt in Cloud. Laut Gartner wurden 2022 weltweit rund 500 Milliarden Dollar in Cloud investiert. Dieser Wert soll sich den Auguren zufolge bis 2025 fast verdoppeln. Andere Studien bestätigen diesen Trend: Eine aktuelle Bitkom-Studie besagt, dass heute neun von zehn Unternehmen bereits Anwendungen aus der Cloud nutzen. Cloud-Nutzung ist also wirklich Mainstream. Und die größten Veränderungen sind: Flexibilität, Zugang zu Innovationen und Effizienzsteigerungen. Kunden können Cloud-Services herauf- und herunterfahren. Sie können sie nur für bestimmte Zeiten buchen oder im Pay as you go. Es gibt verschiedene Geschäftsmodelle für Cloud-Leistungen bis hin zu "Spotmärkten" für Cloud-Kapazitäten. Innovationen sind für Unternehmen sehr viel schneller und günstiger verfügbar.
Denken Sie nur an die gerade entstehenden AI-Services, an IoT-Lösungen oder Analytics-Angebote. Ohne die Cloud könnten die meisten Unternehmen solche Lösungen gar nicht nutzen oder sie müssten vorab Millionen investieren. Viele Unternehmen, die die Cloud nicht nur als ausgelagerte Infrastruktur betrachten, sondern sie auch nutzen, um ihre Applikationen in Cloud-native Services zu verwandeln und ihre Prozesse anzupassen, steigern auch die Effizienz um teilweise beeindruckende Raten. Das ist allerdings mit einem reinen Lift und Shift von On-Premises zu Cloud-Strukturen nicht möglich.
Wie steht es um die Cloud als Ermöglicher von Kosteneinsparungen und ihre Skalierungsvorteile? Spielt das bei den Veränderungen durch die Cloud keine so zentrale Rolle mehr?
Skalierbarkeit und Kosten standen ganz am Anfang der Cloud-Nutzen-Argumentation. Anfangs drehten sich sämtliche positive Cloud-Szenarien um die Themen Skalierbarkeit und Kosten. Es wurde häufig zum Beispiel vom Online-Händler erzählt, der mit der Cloud seine Belastungsspitzen zu Weihnachten im Pay-as-you-use-Verfahren abdecken kann und nicht mehr das ganze Jahr über teure Infrastruktur bezahlen muss, nur um für den Peak im Weihnachtsgeschäft gerüstet zu sein. Heute spielen Skalierbarkeit und Kosten nicht mehr so eine zentrale Rolle, sind aber immer noch wichtig.
Trotzdem scheinen die Kosten immer noch eine Frustrationsquelle zu sein. In einer groß angelegten Accenture-Studie gaben von den befragten Unternehmen nur 39 Prozent an, ihre Kostenziele mit der Cloud erreicht zu haben. Stimmt der Eindruck, dass die Kostenentwicklung in der Cloud die Kunden eher enttäuscht?
Wir haben verschiedene Befragungen zur Cloud durchgeführt, und auf den ersten Blick sind die Ergebnisse in der Tat eher erschreckend. Rund zwei Drittel der befragten Unternehmen sind nicht zufrieden mit der Cloud. Aus meiner Sicht gibt es dafür vor allem zwei Gründe. Wenn Unternehmen aus reinen Kostengründen in die Cloud gewechselt sind, dann haben sie inzwischen nach fünf bis sechs Jahren festgestellt, dass sie die geplanten Kosteneinsparungen nicht nur nicht erreichen konnten, sondern dass sie die Cloud manchmal sogar teurer kommt als ihre frühere IT. Das liegt unter anderem daran, dass zum Beispiel Großunternehmen bereits vor der Cloud sehr effiziente eigene Rechenzentren betrieben hatten. Damit war der Unterschied bei den Infrastrukturkosten nicht so gravierend. Wenn dann noch dazukam, dass die Rechenzentren zum großen Teil weiterliefen, weil dort noch viele Workloads residieren und auch langfristige Verträge galten, dann mussten die Unternehmen beim Umstieg in die Cloud vorübergehend sogar teilweise draufzahlen.
… und der zweite Grund für die Unzufriedenheit?
Das ist etwas komplizierter zu erklären. Ich leite einen Bereich bei Accenture Deutschland, der sich Cloud First nennt. Dieser Bereich unterstützt Kunden in ihrer Transformation in die Cloud. Und da wir bei Cloud First sowohl bei der Strategieentwicklung unterstützen als auch bei der Umsetzung, gewinnen wir Einblicke in alle Bereiche der Kundenunternehmen. Deshalb sehen wir genauer, wo die Ursachen für solche latenten Unzufriedenheiten liegen könnten. Wir haben festgestellt – und Umfragen, die wir in Kundenforen gemacht haben, bestätigen das –, dass die Unternehmen häufig die strategischen, geschäftsprozesstechnischen und organisatorischen Herausforderungen unterschätzen, die eine Migration in die Cloud mit sich bringt. Und wenn Organisation, Abläufe, Fähigkeiten der Mitarbeitenden und auch Geschäftsprozesse sowie -modelle nicht auf die Cloud-Nutzung optimiert werden, können sich die erwarteten Benefts nicht einstellen. Cloud ist so viel mehr als Infrastruktur: Sie ist vor allem ein Enabler und Umsetzungsmotor für die digitale Transformation. Deshalb sollten Unternehmen Cloud nicht als bloße Infrastruktur betrachten, sondern als einen Instrumentenkoffer, der ihnen hilft, ihre Digitalisierung zu schaffen.
Stellen sich die Unternehmen überhaupt die Frage, warum sie in die Cloud gehen wollen oder müssen?
Das ist in der Tat eine sehr wichtige Frage, die alle Unternehmen beantworten sollten. Denn erst wenn sie formulieren, warum sie in die Cloud gehen und welche Ziele sie damit verfolgen, können sie diese Ziele auch erreichen. Ein einfaches "weil alle in die Cloud gehen" ist sicherlich keine valide Argumentation.
Und warum gehen Ihrer Meinung nach Unternehmen in die Cloud?
Die meisten Unternehmen gehen in die Cloud, um Innovationen in kürzeren Zyklen auf den Markt bringen zu können. Die Cloud ist ein Enabler für diese höhere Innovationsgeschwindigkeit beziehungsweise für enger getaktete Produktzyklen. Dafür darf die Cloud aber nicht als Infrastruktur verstanden werden, sondern als Enabler, mit dem ein Unternehmen innovativer und agiler werden kann. Die Cloud und ihre Automatisierungsvorteile ermöglichen es zum Beispiel Unternehmen, Software viel schneller zu entwickeln. Wenn sie aber weiter an ihrem traditionellen und lang dauernden Budgetierungsprozess festhalten, bringt das Unternehmen trotz Cloud nicht schneller neue Software auf die Straße. Ich muss also auch andere Teile des Unternehmens verändern, um die Vorteile zu realisieren, die mir die Cloud bietet. Diese Erkenntnis fehlt häufig noch.
Gibt es Vorurteile gegenüber der Cloud, die Sie für unbegründet halten und die Sie vielleicht sogar ärgern?
Bei mir entwickelt sich ein leichtes Störgefühl, wenn die Cloud heute noch pauschal als unsicher beurteilt wird. Die meisten Cloud-Provider halten höhere Sicherheitszertifzierungen ein, als das die große Mehrzahl der Anwenderunternehmen können, weil ihnen dazu einfach die Kapazitäten und mitunter auch die Expertise fehlen. Für Cloud-Anbieter gehört das zum Kerngeschäft. Die Cloud ist heute häufig sicherer als On-Premises-Anwendungen. Cloud-Souveränität halte ich dagegen für ein valides Thema. Da muss noch einiges getan werden von den Cloud-Providern, um den gesetzlichen Vorschriften und den Compliance-Regeln der Unternehmen zu entsprechen. Aber daran wird intensiv gearbeitet.
Wie entwickelt sich die Cloud weiter?
Es wandern immer mehr Workloads in die Cloud. Das ist defnitiv so. Trotzdem werden die On-Premises-Strukturen nicht komplett verschwinden. Es gibt nach wie vor Gründe, warum bestimmte Workloads nicht in die Cloud ziehen werden: sei es aus Compliance-Gründen, aus Effizienzüberlegungen oder schlicht und ergreifend aus funktionalen Gründen. Deshalb wird das Hybridszenario in den nächsten Jahren das vorherrschende sein. Dabei werden zunehmend auch die On-Premises-Strukturen als sogenannte private Clouds organisiert sein. Die Rechenzentren verhalten sich dann wie Clouds, aber eben On-Prem. Das macht das Handling dieser hybriden Strukturen deutlich einfacher.
Noch einmal die Frage nach Cloud und Geschäftsmodellen: Verändert die Cloud die Geschäftsmodelle der Unternehmen? Sehen Sie Chancen dafür?
Das ist ein ganz entscheidender Aspekt. Viele Unternehmen haben erkannt, dass Technologie zum Kern vieler Geschäftsprozesse und -modelle gehört, und da spielt die Cloud wiederum als Enabler eine wichtige Rolle. In Gartner-Studien nennen CEOs von Unternehmen Technologie inzwischen an zweiter Stelle auf ihrer Prioritätenliste, direkt nach Wachstum. Sie haben erkannt, dass Technologie sie befähigt, Geschäftsmodelle schneller anzupassen. Die Zeiten, in denen Unternehmen ein bis zwei Mal pro Jahr ihre Produkte und Services angepasst haben, sind vorbei. Zumindest die großen Unternehmen zielen heute auf kontinuierliche Verbesserungen. Und dafür bietet Cloud die Basis.
Müssen nicht viele Unternehmen zunächst ihre technischen Schulden abbauen, um sich schneller bewegen zu können? Und wie kann eine Einheit wie Ihre, die Cloud First, da helfen?
Man sollte sich davon nicht abschrecken lassen. Der Abbau der technischen Schulden geht nur schrittweise. Man muss in einzelnen Funktionen und Services denken. Man kann nicht gleich das große Ganze angehen, sondern muss versuchen, sich einen Bereich nach dem anderen vorzunehmen, und die gemachten Erfahrungen und Learnings dann auf die Sektoren anwenden, die als Nächstes angegangen werden sollen. Technische Konzepte wie Microservices oder Data Mesh oder organisatorische Ansätze wie Product-Based Organization verfolgen im Kern die gleiche Philosophie: Agieren in kleineren Einheiten. Produktteams übernehmen für ihr Produkt Ende-zu-Ende-Verantwortung, Microservices übernehmen sehr spezifische Aufgaben und werden mit anderen kombiniert. Bei Data Mesh oder Data Fabric geht es darum, dezentrale Datentöpfe übergreifend zu organisieren. Wir haben bei Cloud First gute Erfahrungen mit diesen schrittweisen Ansätzen gemacht. Die Unternehmen müssen während der Umstellung weiterhin Geschäfte machen können.
Wie hilft Ihre Organisation Unternehmen bei dieser schrittweisen Umstellung, in der die Cloud dann tatsächlich als Enabler funktioniert?
Wir betrachten das Thema immer aus den verschiedenen Perspektiven Technologie, Organisation und Mitarbeitende. Das fängt mit der Strategieentwicklung an, die die aktuelle Situation und die angestrebten Ziele berücksichtigt. Das hört sich ganz einfach an und jeder nickt dazu, aber es ist sehr häufig in den Unternehmen nicht vorhanden. Danach ordnen wir die Themen vier Bereichen zu. Der erste beinhaltet Leadership, Kultur, Talent und Organisation. Der zweite Aspekt, den wir betrachten, ist das Betriebsmodell. Der dritte Bereich bezieht sich auf Technologie und Infrastruktur. Der vierte Sektor dreht sich dann um die IT-Architektur. Wir sind davon überzeugt, dass man den Mehrwert der Cloud nur heben kann, wenn man sämtliche dieser vier Sektoren adressiert.
Welche weiteren Meilensteine sehen Sie in der Cloud-Enwicklung in den kommenden Jahren?
Ich sehe zwei große Themen auf uns zukommen. Das eine wird AI sein. Hier wird eine Fülle neuer AI-Services durch die Cloud verfügbar gemacht. Das gilt auch für andere Innovationen. Je breiter die Cloud angenommen wird, desto schneller stehen innovative Services zur Verfügung. Neben AI sind Augmented und Virtual Reality wichtige Innovationstreiber. Ein weiterer Meilenstein wird das Thema "Souveräne Cloud" sein. Das Fehlen von Cloud-Strukturen, die nationalen Datenschutz, Privacy- und Verbraucherschutzgesetze in einem Maß berücksichtigen, der von vielen Unternehmen als notwendig erachtet wird, wirkt sich bisher noch bremsend auf die Cloud-Nutzung aus. Unternehmen aus stark regulierten Branchen hegen deswegen noch Bedenken gegenüber der Cloud. Sobald hier adäquate Lösungen gefunden werden – daran arbeiten sowohl die Hyperscaler als auch nationale Player –, beschleunigt sich die Adaption der Cloud weiter. Unsere Studien zeigen, dass sehr viele Anwenderunternehmen in den kommenden Jahren in souveräne Clouds investieren werden.
Das ist Dr. Jochen Malinowski
Dr. Jochen Malinowski arbeitet seit 2001 in verschiedenen Führungsrollen für Accenture. Er führt seit 2022 als Cloud First Lead die Cloud-Initiativen von Accenture in Österreich, Schweiz und Deutschland. Davor hatte er ein eigenes Softwareunternehmen gegründet, das für verschiedene lokale Unternehmen Software entwickelte, die man heute IoT-Software nennen würde.
Das Interview führte Christoph Witte