Für Menschen im Autismus-Spektrum kann sich das soziale Leben wie ein Flug in einem Cockpit anfühlen, dessen Knöpfe, Hebel und Funktionen unbekannt sind. Ohne Bordcomputer, der automatisiert arbeitet – alles ist manuell zu bedienen und Einweisung gibt es keine. Das klingt beängstigend und kräfteraubend. Im beruflichen Kontext kann es Betroffene vor unüberwindbare Hürden stellen, beispielsweise wenn im Bewerbungsgespräch nicht klar ist, wie das „Spiel der Überzeugung“ ansatzweise funktioniert, oder wenn im Job Aufgaben in einer Timeline selbstständig zu priorisieren sind.
Dennoch haben Autistinnen und Autisten viele Stärken, die auch für Unternehmen sehr interessant sind und sich insbesondere im Software-Testing bewähren. Das Social Business Specialisterne (dänisch für „Spezialisten“) hat sich deshalb auf die Ausbildung, Vermittlung und das Jobcoaching neurodivergenter Menschen spezialisiert. Man hilft damit nicht nur Autisten, das berufliche Cockpit besser zu beherrschen, sondern bringt Unternehmen mit talentierten Fachkräften zusammen.
Was ist Autismus?
Beim Autismus-Spektrum handelt es sich um eine angeborene Entwicklungsstörung, die in unterschiedlichen Schweregraden auftreten kann. Bei Specialisterne verwendet man die Bezeichnung „Störung“ nicht gerne. Vielmehr wird in dem Social Business von einer anderen Funktionsweise des Gehirns beziehungsweise von einem anderen Wahrnehmungsstil gesprochen.
Autisten verarbeiten Reize anders als neurotypische Menschen: Der Filter, der neurotypische Gehirne unbewusst vor der Überflutung durch sensorische Reize schützt, ist bei autistischen Menschen nur schwach ausgeprägt. Sie nehmen Geräusche, Licht, Gerüche und Berührungen deshalb oft sehr viel intensiver wahr und reagieren überempfindlich auf diese äußeren Einflüsse.
Herausforderungen und viele Stärken
Auch soziales Verhalten und Kommunikation sind Bereiche, die Autisten oft vor Schwierigkeiten stellen. Einige Autisten ziehen den Vergleich mit dem eingangs erwähnten überfordernden Cockpit, dessen Steuerung mühselig erlernt werden muss, während neurotypische Menschen mit einem angeborenen Selbstverständnis und natürlichen Spielregeln durch soziale Situationen manövrieren. Ein ungezwungener Small Talk, die Interpretation von Mimik und Gestik des Gegenübers oder die richtige Einschätzung von nicht eindeutigen Formulierungen – das ist alles nicht so einfach, wenn man wie Autisten über ein anderes Betriebssystem oder Cockpit verfügt.
Gleichzeitig haben viele Autisten aber ausgezeichnete logisch-analytische Fähigkeiten und eine sehr präzise Arbeitsweise. Das autistische Gehirn fokussiert sich vor allem auf Details und Unterschiede, weshalb Menschen im Autismus-Spektrum besonders gut in der Muster- und Fehlererkennung sind. Fehler und Abweichungen springen ihnen daher förmlich ins Auge, ohne dass sie danach suchen müssen.
Das sind alles Fähigkeiten, die fürs Software-Testing gebraucht werden. Specialisterne vermittelt Menschen mit Autismus bereits seit über 10 Jahren in den ersten Arbeitsmarkt. Es hat sich schnell herausgestellt, dass die Anforderungen im Software-Testing mit den Talenten der Kandidaten in vielen Punkten übereinstimmen. In Zusammenarbeit mit Nagarro ist daraus vor 7 Jahren die Ausbildung TestingPro entstanden.
Autismusgerechte Ausbildung im Software-Testing
Abb.1: Trainerinnen und Trainer unterrichten autismusgerecht
Seit 2015 werden Teilnehmer autismusgerecht in der Specialisterne Academy zu Testexperten ausgebildet. Specialisterne reagiert damit nicht nur auf den vorherrschenden Fachkräftemangel in der IT-Branche, sondern begleitet darüber hinaus talentierte Personen, die es dennoch schwer haben, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, beim (Wieder-)Einstieg ins Berufsleben.
Der Partner Nagarro steuert dazu die fachliche Expertise bei und macht die teilnehmenden Autisten fit für die ISTQB ® Foundation Level-Zertifizierung. Neben den Grundlagen der Testautomatisierung sind auch kompakte Testfälle, Webservice-Tests sowie Last- und Performancetests Bestandteil des Curriculums. Unter dem Einsatz von Technologien und Tools wie Jira und Selenium wird das Wissen praxisnah vermittelt.
Trainerinnen und Trainer von Tricentis unterrichten die Testautomatisierungssoftware Tosca und ermöglichen dadurch die Zertifizierung zum Automation Specialist 1 & 2. Praxisprojekte in einem Scrum-Umfeld und psychosoziale Einheiten von Specialisterne runden den 8-wöchigen Fachkurs ab.
Die Einsatzbereiche von Testern im Autismus-Spektrum sind vielfältig. Besonders gut können sie ihre Fähigkeiten bei der Durchführung von Vergleichstests und komplexen, klar definierten Testfällen einbringen. Dasselbe gilt für explorative Tests bei entsprechend gefestigter Erfahrung mit dem betreffenden System. „Im Vergleich zu den meisten ihrer neurotypischen Kolleg:innen haben Autist:innen Freude an Routinetätigkeiten und können diese auch über einen langen Zeitraum mit bestechender Genauigkeit durchführen. Deshalb werden unsere Absolvent:innen auch gerne für Tests eingesetzt, die nicht automatisierbar sind“, erklärt Harmen Vuijk, Kursleiter von TestingPro.
Die Fähigkeiten von Autisten in der Praxis
Das Angebot wird sowohl von Autisten als auch von Unternehmen gut angenommen. Knapp 80 Prozent der Absolventen konnte bisher erfolgreich in einen Job vermittelt werden. Viele Unternehmen, die sich einmal dafür entschieden haben, eine Person im Autismus-Spektrum einzustellen, tun dies immer wieder. Die meisten der Unternehmen sind so zufrieden mit der Arbeitsleistung, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis sie weitere Personen mit Autismus ins Team holen.
Das liegt nicht nur an der hohen Zuverlässigkeit und Ausdauer, mit der Autisten gewöhnlich an Aufgaben herangehen: Das wiederholte Testen von Software nach den immer gleichen Vorgaben kann sehr zeitaufwendig und konzentrationsintensiv sein und führt mit zunehmender Arbeitszeit gewöhnlich zu einem steigenden Fehlerrisiko. Gerade hier können der Arbeitgeber und auch das Team von der außergewöhnlichen Wahrnehmung und der daraus resultierenden Fähigkeit der autistischen Mitarbeiter profitieren, jede einzelne Aufgabe mit der gleichen Gründlichkeit und auf exakt gleiche Weise zu lösen, wenn es verlangt ist.
Der IT-Dienstleister ARZ hat den ersten Software-Tester mit Autismus vor zwei Jahren im Team aufgenommen. Mittlerweile beschäftigt das Unternehmen drei Absolventen von Specialisterne, die vor allem für die Erstellung von automatisierten API-Testfällen und die Durchführung von funktionalen Systemtests zuständig sind.
Marcus Nitsch, Head of Quality Management bei ARZ, beschreibt die Arbeit mit seinen autistischen Kollegen als unkompliziert. Die klaren Strukturen und die distinkte Kommunikation im Unternehmen habe die Zusammenarbeit mit den neuen Kollegen von Beginn an vereinfacht.
Autismusgerechte Rahmen schaffen
Strukturierte Abläufe und eindeutige Arbeitsaufträge sind für die meisten Autisten sehr wichtig, um langfristig erfolgreich im Job zu sein. Organisationen, die einen autistischen Mitarbeiter einstellen möchten, sollten daher die eigene Kommunikation unter die Lupe nehmen und sicherstellen, dass Aufgaben und Zuständigkeiten klar für das zukünftige Teammitglied formuliert werden können.
Dabei können sich die zugeteilten Aufgaben natürlich auch von Zeit zu Zeit ändern und im Zuge von Projektarbeiten angepasst werden. Nitsch setzt seine Tester unter anderem bei der Entwicklung einer neuen Digital-Backbone-Plattform ein und schätzt das Team besonders als Unterstützung bei den Regressionstests der Eigenentwicklungen.
Die Integration von autistischen Mitarbeitern in ein neues Arbeitsumfeld verlangt anfangs mehr Aufmerksamkeit und Zeit. Ein ruhiger und wenn möglich abgeschotteter Arbeitsplatz ist dabei ebenso wichtig wie ein strukturierter Onboarding-Plan mit einem klar geregelten Ablauf. Um auch das Team auf das neue Mitglied vorzubereiten, setzt Specialisterne darüber hinaus auf die transparente Aufklärung über die Diagnose und begleitet die ersten Monate der Zusammenarbeit mittels Coaching intensiv. Der anfängliche Mehraufwand macht sich für die Unternehmen aber bezahlt: Es wird von verbessertem Teamzusammenhalt, klarer Kommunikation & Struktur für alle und einer höheren Arbeitsleistung des Teams berichtet.
Ein strukturiertes Onboarding ist sehr wichtig
High Performance und hohe Arbeitslosigkeit
Immer mehr Unternehmen wollen die Vorteile neurodiverser Teams, die sich aus neurotypischen und neurodivergenten Personen zusammensetzen, nutzen und so von den unterschiedlichen Stärken und Herangehensweisen ihrer Mitglieder profitieren. Hier spricht man auch von High-Performance-Teams, die mit ihrer effizienten Arbeitsweise innovative Lösungswege finden. In Australiens Department of Human Service, wo über 30 Personen mit Autismus als Software-Tester engagiert wurden, konnte die Produktivität neurodiverser Teams gegenüber neurotypischen Teams beispielsweise um 30 Prozent gesteigert werden. (vgl. Austin/Pisano, Harvard Business Review, 2017)1
Dennoch muss noch viel getan werden, um die Situation am Arbeitsmarkt für Autisten zu verbessern. Man geht davon aus, dass Autisten 1 bis 2 Prozent der Bevölkerung ausmachen, die UN schätzt, dass 80 Prozent von ihnen arbeitslos sind. Nicht alle Menschen mit Autismus sind in der Lage zu arbeiten, in manchen Fällen sind die Beeinträchtigungen so stark ausgeprägt, dass ein selbstständiges Leben kaum möglich ist. Aber auch hochfunktionale Autisten, die weniger Beeinträchtigungen im Alltag erleben, haben oft Probleme damit, einen Job zu finden und diesen zu halten.
Autisten werden durch ungewohnte Situationen verunsichert, ihr Verhalten wirkt in sozialen Interaktionen mitunter fehl am Platz. Deshalb können sie sich auch in Bewerbungsprozessen, die für neurotypische Personen konzipiert sind, nur schwer unter Beweis stellen.
Es fängt bereits in der Schule an und zieht sich dann durch das weitere Leben: Der Arbeitsmarkt und die Gesellschaft nehmen noch zu wenig Rücksicht auf die Bedürfnisse autistischer Personen. Trotz überdurchschnittlicher Intelligenz scheitern sie im Studium beispielsweise an der notwendigen Organisation des Semesters und zu vollen Hörsälen. Sie werden darin behindert, ihre Stärken voll zum Einsatz zu bringen. Irgendwann kommt dann der Moment, in dem alles zu viel wird und die Ausbildung abgebrochen oder der Job gekündigt wird.
Dieses Muster will Specialisterne aufbrechen. Neben der Academy werden daher unter anderem auch Coachings und Inklusionsconsulting angeboten – nicht nur für die Autisten, sondern auch für die Unternehmen und Führungskräfte, die die Kandidaten einstellen möchten und so auf die Zusammenarbeit mit ihren künftigen Mitarbeiter und die Bedeutung eines inklusiven Arbeitsumfeldes vorbereitet werden.
Unternehmen leisten mit der Inklusion neurodivergenter Menschen nicht nur einen gesellschaftlichen Beitrag, sondern tun dabei auch sich und ihren Mitarbeitern etwas Gutes. Ziel ist es, dass sich Unternehmen schon bald nicht mehr die Frage stellen, ob sie eine neurodivergente Person einstellen, sondern wann.
Fazit
Damit Menschen im Autismus-Spektrum erfolgreich im Software-Testing arbeiten und Unternehmen diese Personen mit Erfolg beschäftigen können, ist es wichtig, beide Seiten auf die Zusammenarbeit vorzubereiten. Dies gelingt zum einen über autismusgerechte Ausbildungen, die vorhandene Stärken mit fachlichem Know-how aufwerten, und zum anderen über Coaching, das vor allem die Anfangsphase im neuen Job intensiv begleitet.
Für Unternehmen bedeutet das anfangs etwas mehr Aufwand als die Anstellung neurotypischer Personen. Team und Vorgesetzte sollten sich über die Bedeutung der Autismus-Diagnose im Klaren sein und Aufgabengebiete, Kommunikation und den Arbeitsplatz für das neue Teammitglied autismusgerecht gestalten. So können Unternehmen langfristig von der gewonnenen Diversität und ihren bereichernden Facetten profitieren.
Weitere Informationen
https://hbr.org/2017/05/neurodiversity-as-a-competitive-advantage
Über Specialisterne
Das Social Business Specialisterne Österreich wurde 2011 von Stephan Dorfmeister gegründet und ist Teil der dänischen Specialisterne Foundation. Die Idee, Personen mit Autismus gezielt in die IT-Branche zu vermitteln, entstand, als Thorkil Sonne die besonderen Fähigkeiten seines autistischen Kindes erkannte und ihm gleichzeitig bewusst wurde, wie hart es für seinen Sohn später sein würde, einen passenden Job zu finden. Mit dem Ziel, Jobs für eine Million Autisten zu schaffen, gründete Sonne 2004 die dänische Specialisterne Foundation, die heute in 19 Ländern weltweit aktiv ist. Seit Anfang 2022 macht Specialisterne das Angebot auch Personen mit anderen Diagnosen aus dem neurodivergenten Spektrum (wie AD(H)S, Legasthenie oder Dyspraxie) zugänglich. Interessierte Unternehmen oder Bewerber finden weitere Informationen unter at.specialisterne.com.
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Begriffserklärung
- Neurodivergenz: Zu neurodivergenten Personen zählen unter anderem Menschen mit Autismus, AD(H)S, Legasthenie oder Dyspraxie. Neurodivergenz bezeichnet die Abweichung der Funktionsweisen des Gehirns.
- Neurodiversität: Unter Neurodiversität versteht man die Unterschiedlichkeit jedes Gehirns. Kein Mensch und kein Gehirn sind gleich, da Informationen unterschiedlich wahrgenommen und verarbeitet werden. Unter dem Begriff Neurodiversität werden sowohl neurotypische als auch neurodivergente Personen zusammengefasst.
- Neurotypisch: Bei neurotypischen Menschen gibt es keine neurologischen Auffälligkeiten, sie haben „typische“ Gehirne.
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