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„AI muss nicht immer das große Ding sein“

BI-Spektrum sprach mit Dr. Jürgen Wirtgen, Data & AI Lead im Geschäftsbereich Cloud & Enterprise von Microsoft Deutschland, über die Adaption von Künstlicher Intelligenz und die Herausforderungen für die Anwenderunternehmen in Deutschland.

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Christoph Witte

Chefredakteur IT Spektrum und BI-Spektrum


  • 24.06.2019
  • Lesezeit: 10 Minuten
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BI-Spektrum: Halten Sie den großen KI-Hype für berechtigt oder für übertrieben?

Wirtgen: Mit der KI ergeben sich Möglichkeiten, die wir vorher einfach nicht gehabt haben. In Sachen KI befinden sich unsere Kunden in der Experimentierphase und entdecken dabei, dass sie Dinge mit Daten machen können, die sie bisher nicht kannten. Deshalb würde ich nicht von einem Hype sprechen, unsere Services werden sehr stark nachgefragt.

BI-Spektrum: Welche Dienste werden denn am stärksten nachgefragt?

Wirtgen: Es geht nicht nur um Dienste, KI dringt vielmehr ganz tief in unser gesamtes Produktspektrum ein. In Office bieten wir zum Beispiel einen intelligenten Kalender, der selbsttätig nach freien Terminen sucht. In PowerPoint unterstützen wir den Nutzer abhängig von den ausgewählten Bildern mit Vorschlägen zur ästhetischen Gestaltung seiner Folien. Außerdem bieten wir in Word Plug-ins für die Übersetzung an, um Texte auch in einer gewünschten Sprache präsentieren zu können. Die KI-Services, die wir in der Azure-Plattform zur Verfügung stellen, würde ich differenzieren in kognitive Dienste, die in Anwendungen eingebunden werden können, und in Tools, mit denen sich Bots bauen lassen. Im dritten Bereich geht es um die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle und Prozesse, die auf großen Datenmengen basieren.
Die Nutzung dieser Services hängt von der Reife der Unternehmen ab. Diejenigen, die schon Data Scientists beschäftigen, befassen sich einerseits mit dem Aufbau von Data Lakes. Sie sammeln und bereiten Daten auf, um sie den Data Scienists zur Verfügung zu stellen und Machine Learning aufzusetzen, um neue Geschäftsmodelle zu entwickeln. In der Breite der Unternehmen sehen wir eine sehr intensive Nutzung der kognitiven Dienste. Da geht es zum Beispiel um Bild- und Spracherkennung. Auch Language Understanding wird häufig eingesetzt. Dabei geht es darum, die Botschaft eines Textes zu verstehen und weiter zu verwenden. Ebenfalls großer Nachfrage erfreut sich Azure-Search, mit dem sich in großen Datenmengen Zusammenhänge erkennen lassen.

BI-Spektrum: Sie sprechen von starker Nachfrage und gleichzeitig von Experimentieren. Letzteres deckt sich mit zahlreichen Studien zur Adaption von KI in hiesigen Unternehmen. Eine der zentralen Aussagen dieser Untersuchungen ist, dass die meisten Unternehmen noch keine KI-Strategie verfolgen und bisher in erster Linie einzelne KI-Dienste nutzen, aber KI noch nicht in großem Stil anwenden. Deckt sich das mit Ihren Erfahrungen?

Wirtgen: Zu Kunden- und Umsatzzahlen in einzelnen Geschäftsbereichen geben wir leider keine Auskunft. Doch meiner Einschätzung nach haben bereits etliche große Mittelständler und Großunternehmen eine AI-Strategie. Sie verfolgen Geschäftsmodelle, die durch künstliche Intelligenz unterstützt werden – zum Beispiel im Bereich Predictive Maintenance. Die deutliche Mehrheit unserer Kunden experimentiert zurzeit mit KI und sucht nach Geschäftsmodellen und -prozessen, die sich durch KI verbessern lassen.

BI-Spektrum: Warum, denken Sie, verfolgen noch so wenige Unternehmen eine KI-Strategie?

Wirtgen: Die Frage ist, ob es überhaupt einer großen Strategie bedarf, bevor man mit AI beginnt. Gerade der Bereich AI lädt zur agilen Vorgehensweise ein – dass man in kleineren Schritten vorgeht, Proof of Concepts oder Piloten realisiert und dabei lernt. Viele unserer großen Projekte sind so entstanden. Da werden in einem Hackathon Ideen gesammelt; die besten davon werden in produktive Piloten überführt, wobei man weiter lernt. In einem nächsten Schritt wurden diese Piloten dann erweitert und skaliert. Zum Beispiel Fiducia: Dort wurde in einem Hackathon ein Service-Bot entwickelt, der dann innerhalb von sechs Wochen in einen produktiven Piloten überführt wurde und heute im IT-Service genutzt wird. Die Kunden bevorzugen offenbar diese agile und experimentelle Vorgehensweise, und wir unterstützen das sehr gern.

BI-Spektrum: Also braucht es gar keine Strategie?

Wirtgen: Nicht immer und nicht ganz zu Anfang. Aber wenn Unternehmen sich vornehmen, ihre Geschäftsprozesse und -modelle mit Hilfe von KI zu verändern oder grundlegend neu zu gestalten, ist sicher eine Verankerung in der Geschäftsstrategie nötig. Wenn ein Unternehmen sich entscheidet, von einem Hersteller von Turbinen zu einem Anbieter von Schub zu werden und dafür KI einzusetzen, dann muss das auf jeden Fall Teil der Geschäftsstrategie sein. Aber wenn es darum geht, einen Servicetechniker anlassbezogen mit zusätzlichen Informationen zu versorgen oder einem Callcenter-Agenten mit intelligenter Übersetzung zu helfen, dann braucht es dafür keine Änderung in der Geschäftsstrategie. Da muss man noch die Fantasie entwickeln, dass AI nicht immer ein großes Ding sein muss, sondern sich auch in kleinen Services manifestieren kann, die einem punktuell schnell helfen können.

BI-Spektrum: Welche Ziele verfolgen Ihre Kunden, wenn sie das Thema KI aufgreifen?

Wirtgen: Das kann man nicht über einen Kamm scheren. Das hängt sehr stark von den Unternehmen ab und davon, mit welchen Bereichen wir reden. Im Business wird sehr stark über neue Ideen und Geschäftsmodelle nachgedacht. Häufig sind beide Aspekte vorhanden: der der Effizienzsteigerung und der der Business-Erweiterung. Denken Sie an Predictive Maintenance, das hat zum einen natürlich den Aspekt Effizienzsteigerung durch Automatisierung, zum anderen aber den der Geschäftsausdehnung durch neue Service-Modelle. Von daher ist es oft kein Entweder-Oder, sondern beides. Wenn wir mit dem Kunden reden, versuchen wir immer, KI als eine Ergänzung menschlicher Tätigkeiten zu positionieren – eine Ergänzung,die nicht nur mehr Effizienz bringt, sondern auch mehr Freude am Job, weil sich viele repetitive Tätigkeiten und Entscheidungsroutinen mit KI automatisieren oder teilautomatisieren lassen. Wir haben zum Beispiel ein Projekt mit Fraunhofer, da geht es um die Überprüfung von Abwasserkanälen. Normalerweise werden die Kanäle per Kamera auf Risse, Verstopfungen und Leckagen geprüft. Dazu musste bisher ein Mensch vor dem Monitor sitzen und Zentimeter für Zentimeter verfolgen, was die Kamera aufzeichnet. Das können wir dank KI jetzt fast automatisch. Der Mensch bekommt lediglich noch die Fälle gezeigt, die die KI nicht eindeutig zuordnen kann. Dieses Prinzip kann man auf ganz viele andere Services übertragen.

BI-Spektrum: Aber ist die Effizienzsteigerung nicht das stärkste Argument?

Wirtgen: Die Fälle, in denen man einen Vorher-Nachher-Vergleich anstellen kann – wie bei den Kanälen zum Beispiel –, überzeugen natürlich am leichtesten. Aber wenn mit Hilfe von KI neue Geschäftsfelder aufgebaut werden, die es vorher noch nicht gab, kann der Return on Investment sehr viel höher sein.

BI-Spektrum: Aber dennoch scheinen sich Unternehmen schneller für die weitere Automatisierung von Prozessen zu entscheiden, die sie bereits kennen, als dafür, neue Geschäftsfelder aufzubauen. Offenbar scheuen sie das größere Risiko.

Wirtgen: Das wird sehr unterschiedlich gehandhabt. Nehmen Sie beispielsweise die Automobilindustrie. Die entwickeln zum Teil ganz neue Geschäftsmodelle wie Car-Sharing oder autonomes Fahren. Und sie nutzen da KI, um autonomes Fahren zu ermöglichen. Das gilt auch für andere Branchen wie im Bankenwesen oder bei Versicherungen. Und da ist es nicht so einfach, einen TCO zu berechnen, da muss man sich schon überlegen, wie man KI in den nächsten Jahren nutzen will.

BI-Spektrum: Welche hohen Hürden sehen Sie für die Adaption von KI in Deutschland?

Wirtgen: Unternehmen setzen KI bereits ein. Aber die Experimentierfreude, mit der Unternehmen neue Dinge ausprobieren, könnte in Deutschland stärker ausgeprägt sein. Das Fehlen von Skills ist eine weitere große Hürde.

BI-Spektrum: Hilft Microsoft dabei, diesen Skill-Mangel zu lindern?

Wirtgen: Wir werden mit Hilfe unserer Partner in den nächsten Jahren Zehntausende von IT-Leuten mit Online- und Offline-Kursen weiterbilden. Außerdem arbeiten wir eng mit verschiedenen Universitäten zusammen, um diese Technologie so schnell wie möglich weiter zu demokratisieren.

BI-Spektrum: KI schlägt nicht zuletzt deshalb große Skepsis entgegen, weil die Algorithmen nicht transparent sind. Wie geht Microsoft mit dem Black-Box-Problem um?

Wirtgen: Das muss man etwas differenzierter betrachten. Wenn Anwender selbst Methoden und Modelle entwickeln, um KI einzusetzen, kann man nicht mehr von Black Box sprechen. Dort ist der Data Scientist dafür verantwortlich, dieses neuronale Netz zu entwickeln. Wenn wir andererseits Services wie Sprach- und Bilderkennung zur Verfügung stellen, dann ist das gewissermaßen schon eine Black Box. Allerdings entsteht die Intransparenz eines neuronalen Netzes eben sehr häufig, weil niemand weiß, mit welchen Trainingsdaten es gefüttert wurde. Wir beteiligen uns inzwischen sehr stark an den Communitys, die solche Trainingsdaten zur Verfügung stellen. Außerdem gehen wir mit den meisten unserer Algorithmen, die bei Microsoft-Research entstehen, sehr offen um. Darüber hinaus haben wir mit Facebook, Amazon Web Services und anderen Partnern eine Austauschplattform namens ONNX für KI aufgebaut, sodass man sehr einfach Methoden und Modelle zwischen den einzelnen Ökosystemen hin und her migrieren kann.

BI-Spektrum: Gibt es bei Microsoft Ansätze, die Anwendern helfen können, die von vielen beklagte Datenknappheit zu minimieren?

Wirtgen: Auch hier müssen wir wieder differenzieren. Wenn ein Unternehmen eigene Modelle entwickelt, dann geschieht das in der Regel mit hochindividuellen Daten, die vom Unternehmen selbst kommen müssen. Wenn es um horizontale Szenarien geht, zum Beispiel Customer Care oder Übersetzungsdienste, haben wir dann schon Modelle und Daten, die helfen können, das Ganze schneller zu entwickeln und zu streamlinen. Es gibt Services, bei denen wir innerhalb von 65 Sprachen hochqualitative Übersetzungen anbieten können.

BI-Spektrum: Wie schätzen Sie als Vertreter eines globalen Unternehmens den KI-Standort Deutschland ein?

Wirtgen: Europa und Deutschland sind bei KI nicht abgehängt. Durch die starke industrielle Basis in Deutschland entstehen gerade in diesem Bereich immer mehr starke KI-Ansätze. Wir gehen sehr verantwortlich mit dem Thema um, es werden viele kritische Fragen gestellt. Das macht die Entwicklung am Anfang etwas langsamer, aber ich glaube, dadurch wird sie auch viel nachhaltiger. Wir haben in Sachen KI sehr, sehr großes Potenzial, denken Sie nur an die Themen autonomes Fahren, Predictive Maintenance oder Qualitätssicherung. Wir sehen auch, dass die Hochschulen sich dieses Themas immer stärker annehmen.

BI-Spektrum: Sind denn zum Beispiel US-Unternehmen über die Experimentierphase hinaus, die Sie in Deutschland noch als vorherrschend sehen?

Wirtgen: Wenn ich unsere Kundenreferenzen heranziehe, sehe ich, dass wir in Deutschland im Vergleich zu den USA und anderen Ländern sehr gute Referenzen aufgebaut haben, die das KI-Thema nutzen. Von daher sind uns andere Länder da nicht wesentlich voraus.

Der Autor

Dr. Jürgen Wirtgen

DR. JÜRGEN WIRTGEN
verantwortet seit März 2016 im Geschäftsbereich Cloud & Enterprise als Data & AI Lead das Microsoft-Geschäft mit Datenbanklösungen und Cloud-Diensten zur Datenanalyse und Künstlicher Intelligenz. Zuvor war der promovierte Informatiker in verschiedenen Managementpositionen in Vertrieb und Marketing bei Microsoft und Oracle tätig.

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Christoph Witte

Chefredakteur IT Spektrum und BI-Spektrum
Zu Inhalten

Christoph Witte ist Gründer der Wittcomm Agentur für IT, Publishing und Kommunikation. Darüber hinaus ist er Chefredakteur von IT Spektrum sowie BI-Spektrum und wirkt zudem bei dem Magazin JavaSPEKTRUM mit.


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